„Den Amoklauf von Winnenden kann niemand vergessen“
Vor 15 Jahren tötete ein ehemaliger Schüler bei einem Amoklauf in Winnenden 15 Menschen. Johannes Walter war damals als Polizeiseelsorger im Einsatz. Er spricht über die Situation vor Ort und wie die Beteiligten heute mit der Tat umgehen.
- Am 11. März 2009 geschieht in Winnenden in der Nähe von Stuttgart das Unfassbare: Ein 17-Jähriger geht bewaffnet in seine ehemalige Realschule, richtet ein Blutbad an, erschießt 15 Menschen – und dann sich selbst. Die Tat erschüttert das ganze Land. Der Biberacher Polizei- und Klinikseelsorger Johannes Walter war vor 15 Jahren in Winnenden im Einsatz. Im Interview erzählt er von den ersten dramatischen Stunden am Tatort und wie schwer es für Beamte wie Angehörige ist, das Drama zu verarbeiten.
Herr Walter, Sie waren beim Amoklauf in Winnenden vor 15 Jahren vor Ort. Wie haben Sie davon erfahren?
Ich habe als Mitglied des Kriseninterventionsteams der Polizei Baden-württemberg direkt vormittags einen Anruf bekommen, relativ kurz nach den ersten Schüssen des Amokläufers. Von Biberach aus sind wir zu viert mit einem Auto Richtung Winnenden gefahren: ein Polizeiarzt, zwei Beamte und ich als Seelsorger.
Wie war die Situation dann vor Ort, als Sie mittags ankamen?
Die Situation war erschütternd. Als wir in Winnenden angekommen sind, hatten sich Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte vor der Realschule versammelt, nur die Schüler waren schon woanders untergebracht. Aber die Lage war noch recht chaotisch, die Schule war immer noch ein Tatort. Es war natürlich eine bedrückende Stimmung vor Ort. Ich bin mit Kollegen dann am Gebäude vorbeigelaufen, habe von außen in Richtung Klassenzimmer geschaut und da lag ein ungefähr elfjähriges Kind mit dem Kopf auf dem Tisch – tot, erschossen. Dieses Bild hat sich bei mir eingebrannt. Auch die weiteren Opfer waren noch nicht abtransportiert. Im Normalfall sehe ich als Seelsorger die Opfer nicht, weil der Einsatz des Seelsorgers eigentlich erst dann losgeht, wenn die Tat vorbei ist – das war in Winnenden anders.
Wie geht man dann damit um, wenn man solche schrecklichen Dinge sieht?
Viele Menschen wollen so eine Tat vergessen, aber das geht nicht. Den Amoklauf von Winnenden kann niemand vergessen – kein Beamter, kein Angehöriger und kein sonstiger Beteiligter. So ein schreckliches Erlebnis muss man in den Alltag integrieren und am besten auch darüber sprechen – dafür sind wir Seelsorger da.
Bedeutet: Der Einsatz ist auch 15 Jahre danach noch bei Ihnen präsent.
Absolut. Als Vater hat mich dieses Bild des toten Kindes in der Schule unheimlich mitgenommen. Den Einsatz in Winnenden werde ich niemals vergessen können.
Wie sind Sie ganz persönlich nach dem Amoklauf mit der Si
tuation umgegangen? Sie haben das Gesehene ja auch mit nach Hause genommen ...
Ich habe später viel mit meiner Frau darüber gesprochen. Außerdem habe ich auch Tagebuch geschrieben, um den Kopf zu leeren in der Zeit danach. Und mich auch auf meine Hobbys wie zum Beispiel Musik, Fußball und Formel 1 fokussiert. Man muss danach wirklich schauen, was einem guttut – und sollte das auch machen.
War Winnenden Ihr schlimmstes Erlebnis als Seelsorger?
Das zweitschlimmste Ereignis, würde ich sagen. Der Einsatz nach dem Flugzeugabsturz in Überlingen 2002 war nochmals etwas grausamer. Da kam nachts um 3 Uhr ein Anruf und ich bin direkt mit einem Polizeibeamten
Richtung Bodensee gefahren. Die Situation dort war wirklich unvorstellbar. Überall lagen Leichenteile und Trümmer, es war das reinste Chaos. Dort mit Angehörigen zu sprechen, die gerade ihre Familie verloren haben, das war wirklich heftig.
Wie ging es nach dem Amoklauf weiter? Mussten Sie in dieser Sache nochmals seelsorgerisch tätig werden?
Ich war nur einen Tag in Winnenden und bin abends wieder nach Hause gefahren, weil die Kollegen aus Stuttgart die seelsorgerische Betreuung dann komplett übernommen haben. Ich wurde aber in den Tagen nach dem Amoklauf von mehreren Schulen in der Region rund um Biberach angerufen, um dort die Lehrkräfte und Schüler zu betreuen. Denn nach diesem Amoklauf waren gerade die jungen Menschen im Land natürlich total verstört und verängstigt. Viele hatten die Sorge, dass so etwas auch bei ihnen an der Schule passieren könnte. Ich habe als Seelsorger die Ängste der Schüler und Lehrer aufgenommen und mit ihnen besprochen.
Und Ihnen wahrscheinlich gesagt, dass das Leben weitergehen muss ...
Das sicher nicht, weil ich immer versuche, diese Phrase in meinen Gesprächen zu vermeiden. Das Leben geht weiter, das stimmt. Aber als Seelsorger weiß ich nicht, wie das Leben für die Person weitergeht, die beispielsweise gerade ihr Kind bei einem Amoklauf verloren hat. Solche Sätze sind Ohrfeigen für Betroffene, deswegen habe ich sie mir abgeden wöhnt. Ich sehe die Aufgabe als Seelsorger eher darin, ein offenes Ohr für die Angehörigen und Polizeibeamten zu haben, die gerade Schreckliches erleben mussten. Es braucht keine pathetischen Reden oder inhaltslose Ratschläge – oftmals reicht es auch, einfach nur zuzuhören und für die Menschen da zu sein.
Auch 15 Jahre nach der Amoktat bleibt für die meisten Angehörigen immer noch die große Frage nach dem Warum. Was antworten Sie darauf?
Die Frage nach dem Warum kann man gar nicht beantworten. Warum ich? Warum meine Familie? Da gibt es keine Antwort, das muss ich den Betroffenen auch immer ehrlich so sagen. Gläubige Menschen fragen auch oft, warum Gott so etwas wie in Winnen
zulässt. Auch da gibt es keine Antwort darauf. Angehörige müssen eher aufpassen, dass sie durch das ständige Fragen nach dem Warum nicht in eine Spirale kommen, weil die Frage auch krank machen kann. In den allermeisten Fällen bleibt das Warum ein ganzes Leben lang unbeantwortet. Das muss man akzeptieren und lernen, damit umzugehen.
Noch einmal die Perspektive der Einsatzkräfte: Wie verarbeiten Beamte und Sanitäter so schlimme Ereignisse wie einen Amoklauf – gerade, wenn auch noch Kinder unter den Opfern sind?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche wollen gar keine aktive Nachbesprechung mit einem Seelsorger, fressen das Geschehene in sich rein. Manche brauchen aber auch kein Gespräch, weil sie gut auf schlimme Vorfälle reagieren können. Und mit denen, die zu mir gekommen sind, habe ich individuell und unterschiedlich ihre jeweils ganz eigenen Wege gesucht, wie sie damit umgehen können.
Hat sich durch den Vorfall in Winnenden etwas in der Notfallseelsorge verändert?
Die Struktur der Notfallseelsorge ist nach dem Amoklauf in Winnenden ausgeweitet worden, außerdem hat sich auch die Ausbildung verbessert. Einsatzkräfte profitieren bis heute von der seelsorgerischen Begleitung in Baden-württemberg, die durch die Ereignisse in Überlingen oder Winnenden strukturell stärker aufgebaut worden ist. Man hat erkannt, dass die Seelsorge den Einsatzkräften bei der Verarbeitung solcher Ereignisse extrem helfen kann. Auch wenn es nur darum geht, besser damit umzugehen. Denn vergessen kann man einen Amoklauf wie in Winnenden nicht – auch nicht nach 15 Jahren.