Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Provokante­s Spiel mit Tattoos“

Der Wiener Anthropolo­ge Igor Eberhard über die Kulturgesc­hichte der Tätowierun­g, krasse Kunstaktio­nen und warum der Körperschm­uck derzeit so angesagt ist

- Von Antje Merke

- Im deutschspr­achigen Raum sind im Moment etwa 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevö­lkerung tätowiert, unter den 20- bis 35-Jährigen sogar mehr als die Hälfte. Der Trend zum Körperschm­uck ist aber kein neues Phänomen. Der Wiener Anthropolo­ge und Autor Igor Eberhard forscht unter anderem zur Kulturgesc­hichte der Tätowierun­g. Im Videocall mit der „Schwäbisch­en Zeitung“spricht er über Seemänner als Vorreiter, Kaiserin Sisis Anker, wie Künstler mit Bildern auf der Haut Tabus gebrochen haben – und den Tattoo-trend von heute.

Herr Eberhard, wie erklären Sie sich, dass Tätowierun­gen in unserer Gesellscha­ft so in Mode sind? Das ist doch ein merkwürdig­es Phänomen im Zeitalter der flüchtigen virtuellen Identitäte­n.

Tätowierun­gen haben zwar den Anschein von etwas Permanente­m – im Sinne von bleibender Veränderun­g am Körper –, aber sie sind längst auch ein Modeaccess­oire. Sie sind beliebiger und austauschb­arer geworden als früher. Denn parallel zum Tattoo-boom gibt es heutzutage auch eine gesteigert­e Nachfrage nach Tattoo-entfernung­en.

Hat der Trend zum Körperschm­uck auch etwas mit unserem Optimierun­gswahn zu tun?

Tätowierun­gen sind ein globales Phänomen mit ganz unterschie­dlichen Hintergrün­den. In unserer westlichen Gesellscha­ft hat der Körperschm­uck auf jeden Fall etwas mit Selbstopti­mierung zu tun. Man will schön sein, jung und dynamisch wirken und aussehen wie die Stars aus der Film- und Musikbranc­he oder dem Profifußba­ll.

Woher stammt eigentlich das Wort Tattoo und was bedeutet es?

Es gibt verschiede­ne Theorien. Die meisten gehen davon aus, dass das Wort aus dem Polynesisc­hen, also aus der Südsee, kommt. Die Kunst hieß dort „tatau“, woraus im Englischen „tattoo“und auf Deutsch „Tätowierun­g“geworden ist. Es bedeutet so viel wie „Wunden schlagen“.

Im Westen gelten Tattoos heute auch als Ausdruck von Individual­ität. War das schon immer so?

Nein, gerade bei den indigenen Kulturen hatten Tätowierun­gen sehr stark mit Gruppenzug­ehörigkeit zu tun. Sie standen für einen bestimmten Clan, für eine ethnische Gruppe oder für einen gewissen Status. Jede Familie hatte oft ihre eigenen Muster und Figuren. Nur in Ausnahmefä­llen war der Körperschm­uck ein individuel­ler Marker.

Die Tätowierun­g ist ja keine moderne Erfindung. Bis wann etwa lässt sich ihre Entstehung zurückverf­olgen?

Es gibt Vermutunge­n, dass Farbpigmen­te schon bis zu 40.000 Jahre alt sein könnten. Dass die Tätowierun­g vielleicht mit dem Aufkommen der Kunst entstanden ist. Das zu beweisen, ist jedoch schwierig, weil die Zeichnunge­n ja auf der Haut sind und die Körper verwesen. Die ersten wirklichen Spuren hat man bei der Gletscherm­umie Ötzi gefunden sowie bei Mumien aus Gebelein in Ägypten, die jeweils rund 5300 Jahre alt sind. Bei Ötzi geht die Wissenscha­ft davon aus, dass einige dieser Körperzeic­hnungen in Form von Linien und Kreuzen therapeuti­sche Gründe hatten, weil sie teilweise auf Akupunktur­punkten liegen und bestimmten Krankheite­n zugeordnet werden können. Schließlic­h sind verschiede­ne indigene Verfahren überliefer­t, bei denen Krankheite­n traditione­ll mit Tätowierun­gen behandelt wurden.

Wie haben die Europäer Tätowierun­gen in ihrer heutigen Form kennengele­rnt?

Schon relativ früh. So gibt es bereits

im Mittelalte­r Hinweise auf Tätowierun­gen, beispielsw­eise bei den Kreuzritte­rn. Vermutlich war es aber eher ein Randphänom­en. Erst mit den Entdeckung­sreisen der europäisch­en Seefahrer stießen Tätowierun­gen dann auf größeres Interesse. Das war etwas Neues, etwas Ungewöhnli­ches. Der Brite James Cook brachte im 18. Jahrhunder­t nicht nur einen dieser seltsam gemusterte­n Männer mit nach Hause. Auch viele Matrosen haben sich damals auf ihren Reisen stechen lassen. In den großen Häfen hat sich der Trend zum Körperschm­uck dann verbreitet und blieb über lange Zeit erst einmal in diesem Umfeld.

Wie und wann fand die Tätowierun­g dann aus der Schmuddele­cke?

Es gab verschiede­ne Wellen. Die erste war Anfang des 19. Jahrhunder­ts. Nach Angaben von Zeitungen sollen damals rund 20 Prozent

der europäisch­en Bevölkerun­g tätowiert gewesen sein. So waren Tattoos auch in den Fürstenhäu­sern durchaus üblich. Man hat sie allerdings nicht öffentlich zur Schau getragen. Ein schönes Beispiel aus dem Hochadel ist Kaiserin Sisi, die sich viele Jahre später als 51-Jährige einen Anker auf die Schulter tätowieren ließ. Die zweite Welle war dann erst wieder in den 1980er-jahren – ausgelöst durch die Subkultur der Punk-rocker. In dieser Zeit war die Tätowierun­g vor allem ein rebellisch­er Marker.

Jetzt sind wir in der dritten Welle. Trotzdem gibt es Länder wie Japan, in denen Tattoos verpönt sind. Warum?

Die Wahrnehmun­g von Tätowierun­gen ändert sich immer wieder. In Japan werden Tätowierun­gen bis heute mit Kriminalit­ät in Verbindung gebracht. Bekannt für ihre großflächi­gen Tattoos sind vor

allem die Mitglieder der Yakuza, der japanische­n Mafia, die in den 1960ern ihren Höhepunkt hatte. Ihre Tattoos reichen von den Schultern bis zu den Knien und sind Ausdruck von Loyalität, Mut und des eigenen Rangs. Lange Zeit hatten Tätowierte in Japan deshalb in öffentlich­en Badehäuser­n keinen Zutritt.

Auch bildende Künstler haben das Tattoo früh für sich entdeckt. Welche waren wegweisend?

Am Anfang steht für mich Otto Dix, der die tätowierte Schaustell­erin Suleika in den 1920er-jahren porträtier­t hat. Darüber wurde damals viel berichtet. Es war eine Sensation, dass Bilder auf der Haut so prominent dargestell­t wurden.

Aus heutiger Sicht ist das harmlos.

(lacht) Ja, in der Gegenwarts­kunst gibt es viele provokante Tattoo-aktionen.

Die Tätowierun­g tritt hier erstmals mit der Body-art in Erscheinun­g. 1970 ließ sich Valie Export öffentlich ein Strumpfban­d auf den linken Oberschenk­el stechen. Die österreich­ische Künstlerin hat die Sexualisie­rung der Frau durch den männlichen Blick schon früh ganz stark auf den Punkt gebracht. Um das Spiel mit Macht und Ohnmacht ging es Santiago Sierra. Der spanische Konzeptkün­stler missbrauch­te die verzweifel­te Situation von Tagelöhner­n und Drogenabhä­ngigen, um ihre Körper als Ware zu benutzen. Bei einer Performanc­e 1999 in Havanna waren es sechs arbeitslos­e junge Männer, die sich für je 30 Dollar eine waagrechte, kontinuier­lich über alle Rücken laufende Linie tätowieren ließen. Auch heute noch ist das eine sehr krasse, menschenve­rachtende Aktion.

Tabus gebrochen hat auch Wim Delvoye. Etwa mit seinen tätowierte­n Schweinen zwischen 2004 und 2006.

In dieser Debatte ging es vor allem um die Frage: Darf man Tiere überhaupt tätowieren? Darf man ihnen diesen Schmerz antun? Weil es so viele Proteste in Europa gab, hat der Belgier das Ganze dann nach China ausgelager­t und die Schweine dort auf einer Farm in narkotisie­rtem Zustand von Profi-tätowierer­n verschöner­n lassen.

Aber das war ja noch längst nicht alles.

Genau. Wim Delvoye hat 2006 ein weltweites Tabu überschrit­ten, als er den Rücken des Schweizer Musikers Tim Steiner mit einer großen Madonnenfi­gur tätowieren und seine Haut anschließe­nd vermarkten ließ. Tim wurde von einem Hamburger Kunstsamml­er gekauft, der ihn zu Lebzeiten ausstellen oder verkaufen und nach seinem Tod die Haut auch konservier­en darf.

Der Aktionskün­stler Flatz hat vor Kurzem in München ebenfalls seine Haut mit 13 Tattoos an einen Sammler verkauft. Ist das mehr als nur Provokatio­n?

Ich glaube schon. Da geht es im wahrsten Sinne des Wortes um „die Haut zu Markte tragen“. Normalerwe­ise sind Tätowierun­gen an einen Träger gebunden und verschwind­en mit seinem Tod. Außer der Mensch wird wie bei Flatz und Co. zum Objekt gemacht. Es ist also ein makabres Spiel mit dem, was vom Menschen übrigbleib­t. Zugleich kann man diese Aktionen auch als Anspielung auf den Reliquienk­ult in der Kirche verstehen, wo einzelne Körperteil­e von verschiede­nen Heiligen präpariert und aufgehoben wurden und bis heute verehrt werden.

Mittlerwei­le verstehen sich auch viele Tätowierer als Künstler. Was waren früher typische Motive? Was heute? Gibt es da überhaupt Unterschie­de?

Da liegen Welten dazwischen. Bei den Seefahrern waren es die Klassiker wie Anker oder Schiff, aber auch Pin-up-girls oder Jesusfigur­en. Heute gibt es eine enorme Vielfalt mit ganz neuen Entwicklun­gen. Ein Beispiel sind Soundwave-tattoos, die gescannt und über eine Smartphone-app angehört werden können.

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FOTOS: KUNKEL FINE ART/MÜNCHEN/ WIM DELVOYEM SZ-ARCHIV, IMAGO Der Künstler Otto Dix hat mit seiner Radierung „Maud Arizona (Suleika, das tätowierte Wunder) von 1922 ein Tabu gebrochen (li. unten). Das gilt auch für Wim Delvoye mit seinen tätowierte­n und später ausgestopf­ten Schweinen im Jahr 2004 (oben). In Japan sind Tattoos bis heute verpönt, weil sie mit der Yakuza-mafia in Verbindung gebracht werden. Bei Festivals werden sie aber zur Schau gestellt (re. unten).

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