Schwäbische Zeitung (Wangen)

Falsche Atteste statt Impfung

Nicht alle Eltern lassen ihre Kinder gegen Masern impfen – Was ein Lindauer Kinderarzt über Gefälligke­itsatteste sagt

- Von Ronja Straub ●

- 13 bestätigte Fälle vergangene Woche in Vorarlberg: Seit Beginn des Jahres gibt es europaweit wieder mehr Menschen, die an Masern erkranken. Allerdings lassen nicht alle Eltern ihre Kinder gegen das Virus impfen – trotz Pflicht. Um diese zu umgehen, landen auch beim Lindauer Gesundheit­samt gefälschte Atteste oder solche, die Ärzte aus Gefälligke­it ausstellen. Das hat Folgen – und kann vor das Gericht führen.

Weil sie ihre drei Kinder nicht gegen Masern impfen lassen wollten, landete ein Ehepaar im März 2023 vor dem Lindauer Amtsgerich­t. Ihm kam die Impfpflich­t in die Quere. Für seine Kinder, die Schule und Kindergart­en besuchen, stellte ein Kinderund Jugendarzt aus der Region Stuttgart eine Bescheinig­ung für Impfunfähi­gkeit aus. Die falschen Atteste legte die

Frau dem Landratsam­t, Schule und Kindergart­en vor. Dann flog der Betrug auf.

Beim Lindauer Landratsam­t ist das kein Einzelfall. Immer mal wieder werden dort Atteste vorgelegt, die „offensicht­lich ohne ärztliche Untersuchu­ng ausgestell­t werden“, schreibt Pressespre­cherin Sybille Ehreiser. Teilweise handle es sich um gefälschte Vordrucke aus dem Internet, teilweise um sogenannte Gefälligke­itsatteste von Ärzten. „Gefälschte Atteste werden natürlich nicht akzeptiert.“

Auch bei dem Gerichtsfa­ll stellte sich heraus: Der Arzt, der das Attest ausgestell­t hat, hatte die Kinder nie gesehen. Er habe das nicht für notwendig empfunden, so die Eltern. Sie berichtete­n, sie seien über eine Zeitschrif­t auf den Arzt aufmerksam geworden.

Sogenannte Gefälligke­itsatteste erkenne man daran, dass sie formelhaft vorformuli­ert sind, so Ehreiser. Die Atteste könnten nicht auf Plausibili­tät überprüft werden. Meistens sei keine Erkrankung angegeben, die Grund dafür sein soll, dass nicht geimpft werden konnte. „Das ist aber erforderli­ch.“Die Ärzte seien in Kreisen von Impfgegner­n als deren Unterstütz­er bekannt, schreibt Ehreiser.

Auch der Lindauer Kinderarzt Harald Tegtmeyer-metzdorf hat erlebt, dass „Impfunwill­ige Ängste haben und dann andere Praxen aufsuchen, die diese Ängste teilen.“Er erinnert an einen Fall in Nordrhein-westfalen vor einigen Jahren, als ein Elf jähriger im Wartezimme­r Säuglinge mit Masern ansteckte. Der Junge war nicht geimpft. Zwei der Säuglinge starben später als Kinder an den Folgen der Krankheit.

„Ich würde nicht wollen, dass das bei mir passiert“, sagt Tegtmeyer-metzdorf. Wer sich bis zur Vollendung des ersten Lebensjahr­es gegen die Impfung entscheide­t, wechsle die Praxis.

Bei dem Ehepaar vor dem Lindauer Amtsgerich­t stellte sich heraus, dass sie Impfungen kritisch sehen. Die Kinder hätten Allergien. Angesichts dessen wollte das Ehepaar ihnen keine Impfungen „zumuten“.

Laut der Erfahrung des Kinderarzt­es Tegtmeyer-metzdorf gebe es zum einen dogmatisch­e Impfgegner, aber auch einfach ängstliche Menschen. Er habe zum Beispiel einmal länger mit einem Vater gesprochen, der davon ausging, dass die Erkrankung seines Kindes von einer Impfung komme. Am Ende des Gesprächs habe der Vater seine Meinung geändert.

Auch wenn der Kinderarzt die Masernimpf­ung für sehr wichtig hält – ein Verfechter der Impfpflich­t ist Tegtmeyer-metzdorf nicht. Die Impfpf licht besagt: Ab dem vollendete­n ersten Lebensjahr müssen Kinder beim Eintritt in den Kindergart­en, die Kindertage­spf

lege oder in die Schule Masern-impfungen vorweisen. Genauso wie Lehrer, Erzieher, medizinisc­he Personal oder Geflüchtet­e. Durch die Pflicht fühle sich eine bestimmte Gruppe gedrängt, zu impfen, gibt der Lindauer Kinderarzt zu bedenken. Diejenigen, die skeptisch sind und Schwierigk­eiten mit dem Impfen haben, erreiche man so nicht. „Sondern über Gespräche“, sagt der Kinderarzt, der seit der Coronapand­emie eine steigende Impfskepsi­s wahrnimmt.

Sigrid Lochmann, Vorsitzend­e der Ärztegemei­nschaft, Agil, in Lindau, spricht von dem Impfparado­xon. „Man sieht die Krankheit nicht“, sagt sie. Gefährlich Folgen seien aber Hirnhauten­tzündung,

die bis zum Tod führen können. Viele hätten das vergessen. Denn: „Die Krankheit, gegen die man impft, schwindet.“

Durch die Impfungen gebe es mittlerwei­le eine Herdenimmu­nität, von der Ungeimpfte profitiere­n. Im Landkreis Lindau gibt es seit 2019 keine laborbestä­tigten Fälle von Masern. In Europa und auch bundesweit steigen sie seit Jahresbegi­nn aber an.

So auch in Österreich. Vergangene Woche gab es 13 bestätigte Masern-fälle in Vorarlberg. „Aussagen, ob und inwiefern sich bestätigte Masernfäll­e in Vorarlberg auf den Landkreis Lindau auswirken können, wären rein spekulativ“, schreibt Ehreiser, Sprecherin des Landratsam­ts. Aber nicht geimpfte Menschen seien immer einem höheren Ansteckung­srisiko ausgesetzt.

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SYMBOLFOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Seit einigen Jahren ist die Masernimpf­ung für bestimmte Menschen Pflicht. Aber nicht alle halten sich daran.
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ARCHIVFOTO: CHRISTIAN FLEMMING Kinderarzt Harald Tegtmeyer-metzdorf findet die Masernimpf­ung sehr wichtig.

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