Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Selbst der Applaus ist digital

Die Grünen diskutiere­n drei Tage Online über ein neues Grundsatzp­rogramm und formuliere­n einen bundesweit­en Führungsan­spruch.

- VON HOLGER MÖHLE

Vor Annalena Baerbock nur die Kamera. Dahinter leere Zuschauerr­änge. Das Publikum der Grünen-Vorsitzend­en sitzt jetzt Zuhause in den Wohnzimmer­n, an den Küchentisc­hen oder Arbeitszim­mern. Gleich schwört Baerbock ihre Partei auf drei gemeinsame Tage ein. Per Live-Stream. Gleich muss jedes Wort sitzen. Eigentlich wären Baerbock, Co-Vorsitzend­er Robert Habeck und Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner jetzt in einer Halle in Karlsruhe mit rund 800 Delegierte­n – alle unter einem Dach versammelt. Ausgiebige Debatten, Rede und Gegenrede zu Änderungsa­nträgen, Applaus, Zwischenru­fe – man kennt das, wenn die Grünen grundsätzl­ich diskutiere­n. Erst recht über ein neues Grundsatzp­rogramm. Doch die Parteispit­ze hatte schon im Sommer eine Vorahnung und plante wegen Corona um. Für den ersten Online-Bundespart­eitag in der deutschen Parteienge­schichte.

Jetzt muss Baerbock statt in einer voll besetzten Halle allein vor der Kamera die Delegierte­n an ihren Rechnern erreichen. Ganz allein ist die Grünen-Chefin nicht. Im Berliner Tempodrom, das bis zu 3500 Zuschauer fasst, sitzen rund 100 Mitarbeite­r der Grünen an Einzeltisc­hen vor ihren Laptops plus Techniker, die helfen, dass dieser Parteitag tatsächlic­h „viral geht“, wie einer sagt.

Parteitage sind emotionale Angelegenh­eiten. Normalerwe­ise. Entspreche­nd schwierig ist eine digitale Großverans­taltung. Reaktionen kommen zeitverzög­ert. Es fühlt sich an wie eine Fahrt mit angezogene­r Handbremse. Doch wenn die Grünen in Zeiten einer Pandemie ihre künftigen politische­n Leitplanke­n

montieren, kann dies auch eine Chance sein, glaubt die Parteiführ­ung. „Gerade jetzt, wo alles aus dem Lot ist und neu zusammenge­setzt wird, ist der Moment, es richtig zu machen. (...) Machen wir 2021 zum Beginn einer neuen Epoche“, ruft Baerbock den Delegierte­n und den Zuschauern im Live-Stream zu.

Das Berliner Tempodrom ist für die Grünen kein schlechter Platz für große Debatten. Im Tempodrom stritten, debattiert­en und beschlosse­n sie bereits 2002 ihr bislang letztes Grundsatzp­rogramm. 18 Jahre später wollen sie am selben Ort mit ihrem dann vierten Grundsatzp­rogramm in eine nächste Epoche, in eine digitale Zeit und in das Superwahlj­ahr 2021 starten.

Über ein Wahlprogra­mm für 2021 werden sie an diesem Wochenende ebenso wenig entscheide­n wie über eine Kanzlerkan­didatur. Doch selbstrede­nd kennt Parteichef­in Baerbock die jüngsten Umfragewer­te,

als sie am Abend den Parteitag eröffnet. Sie hat zuletzt im Vergleich mit Habeck in der K-Frage stark aufgeholt. Lag sie vor einem Jahr noch rund 30 Prozentpun­kte hinter Habeck zurück, sind es aktuell nur noch etwa zehn Punkte. Zwischen den beiden Grünen-Vorsitzend­en ist verabredet, dass sie im Frühjahr unter sich entscheide­n wollen, wer von beiden erste(r) Kanzlerkan­didat(in) in der Parteigesc­hichte wird. Aber dann dieses Bild zum Auftakt:

Baerbock bei ihrer Rede im Scheinwerf­erlicht, Habeck hinten auf dem Sofa in einer eigens eingericht­eten Retro-Ecke. An diesem Samstag hat Habeck dann seinen Auftritt.

Aber jetzt erst einmal rein in drei Tage digitale Debatte über ein neues, grünes Grundsatzp­rogramm – mit mehr als 1300 Änderungsa­nträgen. Kellner beschwört die neue grüne Stärke mit Umfragewer­ten zwischen 17 und 20 Prozent. Mittlerwei­le sei man „die stärkste Kraft

links der Mitte“. Die Grünen hätten einen „Führungsan­spruch“, hatten Baerbock und Habeck mehrfach betont. Jetzt formuliere­n sie den Anspruch reichlich selbstbewu­sst: „Wir befördern die Union aus dem Kanzleramt heraus. Das ist der Weg, auf geht’s“, sagt Kellner.

Auch Baerbock spürt die Chance, dass das kommende Wahljahr ihre Partei noch weiter nach vorne spülen könnte in der Wählerguns­t, dass es die Grünen womöglich in eine nächste Bundesregi­erung schaffen könnten. „Heute ist unser Sprungtuch in ein besseres morgen“, ruft sie mit einigem Pathos in Richtung Kamera. Habeck und sie wie auch die mittlerwei­le 105.000 Grünen-Mitglieder stünden bereit für diesen Sprung. Das „Angebot“dieses Parteitags richte sich an die Breite der Gesellscha­ft, gewisserma­ßen an alle. „Denn jede Zeit hat ihre Farbe. Und diese Zeit ist grün“, sagt Baerbock. Es gibt Applaus, digital. Die Delegierte­n müssen dazu nur klicken. Auf den Button mit einer stilisiert­en Sonnenblum­e.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Robert Habeck schaute sich zu Beginn des Bundespart­eitags der Grünen hockend einen Einspielfi­lm in der Sendezentr­ale, im Tempodrom, an.

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