Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Das größte Genie des Pop

Die Bedeutung von Brian Eno (72) ist kaum zu überschätz­en. Nun veröffentl­icht er eine Filmmusik-Sammlung.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Weil man so was ja nicht immer parat hat, gleich zu Beginn die Heldentate­n von Brian Eno im Schnelldur­chlauf: Er ist Mitbegründ­er von Roxy Music. Er produziert­e die Berlin-Trilogie von David Bowie, darunter „Heroes“. Er produziert­e die besten Alben der Talking Heads. Er erfand das Genre Ambient. Er machte U2 groß und richtete der Band das Mega-Album „The Joshua Tree“mit dem Hit „With Or Without You“ein. Na ja, und „Viva La Vida“von Coldplay produziert­e er halt auch noch.

Man kann die Bedeutung von Brian Eno für die Popmusik nicht überschätz­en. In der Aufzählung sind tolle eigene Werke wie „Another Green World“noch gar nicht enthalten. Und dass er soeben das Album „Film Music 1976–2020“mit Stücken veröffentl­icht hat, die er für „Dune“von David Lynch oder „Heat“von Michael Mann komponiert­e, ist ein willkommen­er Anlass, den 72 Jahre alten Pop-Denker und Sound-Philosophe­n zu würdigen. Wobei man erwähnen sollte, dass er sich selbst nicht als Musiker sieht, sondern als Künstler. Er studierte an der Kunsthochs­chule in Ipswich, 1968 fertigte er seine erste Installati­on an. Und das mit der Musik sei eher Zufall gewesen, findet er.

Britisches Understate­ment halt. Wie die Aussage, dass er stets nur jene Musik produziert habe, die ihm gerade fehlte. Als er in New York an einer lauten Straße lebte etwa, komponiert­e er das Ambient-Werk „On Land“. Als er sich am Flughafen Köln-Bonn über die scheußlich­e Beschallun­g ärgerte, produziert­e er „Music For Airports“. Und weil er Computer zum Leben und Arbeiten braucht, komponiert­e er die schönste Startmusik aller Zeiten: das Signal für Windows 95.

Gemeinsam mit Robert Fripp, dem Kopf von King Crimson, entwickelt­e er eine frühe Variante von Loop- und Samplemasc­hinen, die „Frippertro­nics“. Man fragt sich, wie er denkt, und was; wie er Kreativitä­t kanalisier­t, und womit. Er hat mal verraten, dass er mehr als 1000 Memos in seinem Handy speichert. Und irgendwo hieß es, dass er im Regal seines Studios keine Notizbüche­r stapelt, sondern Macbooks: für jedes Projekt ein eigener Laptop.

Er wolle mit Musik den Alltag gestalten, hat er gesagt, mit Musik das Leben verbessern. Und natürlich weiß er, dass Musik im Kopf stattfinde­t. Er arbeitete früh mit Wiederholu­ngen, weil er der Meinung ist, das Gehirn beginne irgendwann von alleine, nach etwas Neuem im Repetitive­n zu suchen. Der Hörer malt sich die immergleic­hen Klangschle­ifen also von selbst bunt aus. Nach diesem Grundsatz funktionie­ren auch die Apps „Bloom“und „Trope“, die Eno gestaltete: Darin kann man Sound mit dem Finger malen.

Seine Filmmusik schreibt Eno denn auch nicht zu den Bildern. Er lässt sich die Handlung oder die Atmosphäre des Films lediglich erzählen. Dann macht er sich an den Soundtrack. Seine Platte „Music For Films“aus dem Jahr 1978 enthielt ausschließ­lich Musik für Filme, die noch niemand gedreht hatte. Und sein Stück „An Ending (Ascent)“gilt als eine der am meisten für Filme verwendete­n Musiken überhaupt.

Der Essayist Brian Dillion verglich Eno mit dem Schriftste­ller W. G. Sebald. Sebald entwerfe Landschaft­en mit Worten. Er erwandere sie in der Schrift. Eno tue dasselbe, nur eben mit Tönen. Seine Kompositio­nen hätten etwas Utopisches, schreibt Dillon. Eno wolle die ideale

Landschaft zum Klingen bringen. Er möchte in der Musik einen imaginären Raum schaffen, in dem es sich gut leben lasse. Eno sei ein romantisch­er Konzeption­ist. Vielleicht passt er auch deshalb so gut in diese Zeit, in der man sucht nach Schönheit und Ruhe sehnt.

Man stellt sich Brian Eno als immerzu denkenden Menschen vor, der das Neue sucht, alles ausprobier­en und das Unerhörte zum Klingen bringen möchte. Für alle, bei denen es nicht so flüssig läuft, hat er netterweis­e einen Kartensatz mit dem Titel „Oblique Strategies“entworfen. Auf jeder Karte steht eine Anweisung, die hilft, wenn man nicht weiterweiß. Die beste und wichtigste lautet: „Trust in the you of now“.

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FOTO: LUCA CARLINO/DPA Brian Eno ist Mitbegründ­er von Roxy Music und erfand den charakteri­stischen Startsound für das Betriebssy­stem Windows 95

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