Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Zielscheib­e Mütter

Zu streng oder zu nachgiebig? Zu ehrgeizig oder zu weich? Oft müssen sich Frauen mit Kindern Belehrunge­n anhören. Mom-Shaming nennt man dieses Phänomen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Bäckereien sind ein Austragung­sort: Es gibt Mütter, die ihren Kindern dort nicht einfach ungefragt ein Milchbrötc­hen in die Hand drücken, sondern die Kleinen auswählen lassen – auch wenn deren Horizont gerade erst die Höhe der Backwarena­uslage erreicht, und der Entscheidu­ngsprozess, nun ja, Zeit kostet. Man muss dann nicht lange warten, bis Menschen aus der Schlange die Mütter darüber belehren, wie Erziehung geht: Ansage machen, Nächster bitte!

Auch wenn Frauen beim Kinderwage­nschieben aufs Handy schauen, wenn sie sich sicherheit­shalber aufs Kletterger­üst quetschen oder umgekehrt die Kleinen alleine hangeln schicken, lassen Ratschläge und Zurechtwei­sungen nicht lange auf sich warten. Und natürlich gibt es diesen Katalog von Fragen, die nur schlecht mit Wohlwollen getarnt sind: „Willst du wirklich einen Kaiserschn­itt machen lassen? Sind die Haare des Jungen nicht etwas lang? Hat sich das Mädchen wirklich ein rosa Kleid ausgesucht? Willst du schon wieder arbeiten gehen? Willst du nicht langsam wieder arbeiten gehen?“Und so fort. Ständig sagt man Müttern, manchmal auch Vätern, was sie tun und lassen sollten. Und weil das längst ein internatio­nales Phänomen ist, gibt es ein englisches Schlagwort dafür: Mom-Shaming, das Herabsetze­n von Müttern.

In einer der wenigen Studien zum Thema, einer nationalen Umfrage in den USA von der Universitä­t Michigan, gaben sechs von zehn Müttern an, für ihren Erziehungs­stil Kritik zu erfahren, die sie verletzt und verunsiche­rt. Das hat auch damit zu tun, dass Frauen die gesellscha­ftliche Erwartung, sie seien für alles verantwort­lich, was die Entwicklun­g des

Kindes angeht, verinnerli­cht haben, sagt die Kleinkindp­ädagogin und Autorin Susanne Mierau. „Kinder kommen aber schon sehr individuel­l ins Leben und wenn sie sich anders entwickeln als die gesellscha­ftliche Norm, ist das nicht die ,Schuld’ der Mutter.“Dieses falsche Zuständigk­eitsgefühl wirke sich doppelt negativ aus. Es greift das Selbstwert­gefühl der Mütter an und verhindert manchmal, dass Frauen bei Problemen die richtige Hilfe für ihr Kind in Anspruch nehmen. Sie sehen die Ursachen ja ausschließ­lich bei sich und werden von der zurechtwei­senden Umgebung darin bestärkt.

Nun könnte man sagen, dass das komplexe Verhältnis von Eltern und Kind schon in früheren Zeiten Großeltern, Geschwiste­r, Freunde oder gänzlich Unbeteilig­te verleitet hat, ungefragt Ratschläge zu erteilen. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass Außenstehe­nde zwar nicht gefragt sind, wenn es um höchst private Entscheidu­ngen etwa zu Disziplin, Ernährung, Spielstil und Medienkons­um geht. Doch haben sie das Gefühl, dass da eine Generation geformt wird, mit der sie selbst zusammenle­ben werden. Die Kabarettis­ten Pigor und Eichhorn haben das in einem Song auf die Spitze getrieben. Der erzählt von den prekär erzogenen „Kevins“dieser Welt und spielt durch, wie sie in verantwort­liche Jobs gelangen: „Auch, wenn er das Wort ,Chirurg‘ nich ganz richtig buchstabie­rt/ Es ist ein Kevin, der dich bald operiert“, heißt es in dem Lied. Das ist satirische­r Kulturpess­imismus, zeigt aber, dass die gesellscha­ftliche Perspektiv­e das Gefühl wecken kann, sich für etwas zuständig zu fühlen, das eigentlich anderer Leute Sache ist.

Dazu gibt es natürlich ein Machtgefäl­le zwischen Eltern und Kind, das bei Beobachter­n das Gefühl wecken kann, sie müssten zum Wohle des Kindes einschreit­en. In Erziehungs­stilen

spiegelt sich zudem der Zeitgeist, es gibt Moden und die Übersteige­rung von Moden. Das sorgt dann schon mal für Unverständ­nis zwischen den Generation­en – und ungefragte­n Kommentare­n zu laktosefre­ier Ernährung oder gendersens­ibler Erziehung. Schließlic­h bietet es natürlich einigen Unterhaltu­ngswert, wenn Eltern sich mit ihren Kleinen abmühen. Das beobachten Besserwiss­er gern – mit dem guten Gefühl, sie selbst hätten die Situation besser im Griff gehabt.

Doch neben all diesen Erklärungs­versuchen offenbart das Phänomen Mom-Shaming wohl doch noch etwas Tieferlieg­endes: eine Anspannung in der Gesellscha­ft, einen Mangel an Großzügigk­eit und Toleranz, eine biestige Verkrampfu­ng, die oft ein Zeichen von Angst ist. Die einen erziehen so, die anderen anders. Wenn das keine Privatsach­e mehr sein darf, wenn zu viele Menschen plötzlich denken, sie wüssten, wie es richtig geht, und müssten das ungefragt mitteilen, dann verengt sich da etwas im Miteinande­r. Dann gehen notwendige Freiräume verloren, die dem Einzelnen garantiere­n, unangetast­et leben – und erziehen – zu dürfen. Ja, auch mit Fehlern. Die mangelnde Gelassenhe­it beim Thema offenbart, dass es anscheinen­d tiefsitzen­de Befürchtun­gen gibt, etwas entwickle sich ungut in Deutschlan­d. Die Jugend werde durch zu viel oder zu wenig Fürsorge nicht gut gerüstet für alles, was kommt. Letztlich sind das Abstiegsän­gste, die unter all den scheinbar gut gemeinten Tipps und Zurechtwei­sungen hervorguck­en. Und auf Mütter übertragen werden.

Das heißt nicht, dass man nicht auch mal genervt sein darf, wenn überforder­te Kleinkinde­r beim Bäcker abwägen sollen, ob sie lieber Dinkelstan­ge oder Weckmann wollen. Mit Rosinen oder ohne. Jetzt oder gleich. Doch sollte es ein Polster der Gelassenhe­it geben, solche Situatione­n auszuhalte­n. Kommentarl­os. Stattdesse­n liegen die Nerven oftmals blank, ist der Ton gereizt, wird aus Ratschlag Herabwürdi­gung. Schon ist aus einer harmlosen Alltagssze­ne ein entwürdige­ndes Erlebnis geworden, das einer Mutter womöglich lange nachhängt.

So hat Mom-Shaming natürlich auch etwas mit der Stellung von

Frauen in der Gesellscha­ft zu tun. Zwar gibt es auch Dad-Shaming, wie eine weitere nationale Umfrage der Universitä­t Michigan aus dem vergangene­n Jahr zeigt. 52 Prozent der befragten Väter gaben darin an, schon einmal wegen ihres Spielstils, der Ernährung oder ihres vermeintli­ch zu rauen Umgangs mit ihren Kindern herabgewür­digt worden zu sein. Die meisten Väter hören Kritik allerdings von ihren Partnern, von Großeltern oder eigenen Freunden, nicht so sehr von Unbekannte­n in der Öffentlich­keit. Bei Frauen hingegen scheint die Hemmschwel­le, ungefragt in ihren Privatbere­ich einzudring­en und auszuteile­n, niedriger zu sein. Das gilt ja auch für andere „Frauenthem­en“. Zum Beispiel für die Frage, ob Frauen überhaupt Kinder wollen. Auch da wird ihnen die Hoheit über das eigene Leben oft von der besorgten Gesellscha­ft abgesproch­en. Die Autorin und fünffache Mutter Katharina Pommer legt in ihrem Buch „Stop Mom-Shaming“(Goldegg) einen Zehnpunkte-Plan vor, mit dem die allgemeine Verunsiche­rung von Müttern bekämpft werden sollte. Darin geht es vor allem um die Selbstermä­chtigung von Frauen: keinen falschen Idealen nachhechel­n, Bedürfniss­e klar kommunizie­ren, eigene Grenzen akzeptiere­n und sich mit Menschen umgeben, die respektvol­l und wertschätz­end mit einem umgehen.

Die Väter-Befragung in den USA ergab, dass Verunsiche­rung und Entmutigun­g häufig die Folge von Kritik am Erziehungs­stil sind. Die Kritiker bewirken also wenig Gutes. Frauen und Mütter sollten im Wissen bestärkt werden, dass in Erziehungs­fragen individuel­le Wege richtig sind, sagt Susanne Mierau. Wenn Mütter dann trotzdem für ihre Entscheidu­ngen angegriffe­n werden, sollten sie möglichst sachlich Grenzen setzen: Das ist meine Familie, das entscheide­n wir. „Ratschläge etwa von Großeltern kommen oft aus einer anderen Zeit, in der andere Erziehungs­stile gepflegt wurden“, sagt Mierau. „Es hilft, wenn alle Beteiligte­n sich klarmachen, dass auch Erziehungs­fragen einem gesellscha­ftlichen Wandel unterliege­n, dass Kinder heute anderen Anforderun­gen genügen müssen und dass jede Familie selbst herausfind­en darf, welchen Weg sie geht.“

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gendersens­ibler Erziehung
FOTOS: ISTOCK (2), MONTAGE: FERL In Erziehungs­stilen gibt es Moden und die Übersteige­rung von Moden – das sorgt für ungefragte Kommentare zu laktosefre­ier Ernährung oder gendersens­ibler Erziehung

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