Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Zielscheibe Mütter
Zu streng oder zu nachgiebig? Zu ehrgeizig oder zu weich? Oft müssen sich Frauen mit Kindern Belehrungen anhören. Mom-Shaming nennt man dieses Phänomen.
Bäckereien sind ein Austragungsort: Es gibt Mütter, die ihren Kindern dort nicht einfach ungefragt ein Milchbrötchen in die Hand drücken, sondern die Kleinen auswählen lassen – auch wenn deren Horizont gerade erst die Höhe der Backwarenauslage erreicht, und der Entscheidungsprozess, nun ja, Zeit kostet. Man muss dann nicht lange warten, bis Menschen aus der Schlange die Mütter darüber belehren, wie Erziehung geht: Ansage machen, Nächster bitte!
Auch wenn Frauen beim Kinderwagenschieben aufs Handy schauen, wenn sie sich sicherheitshalber aufs Klettergerüst quetschen oder umgekehrt die Kleinen alleine hangeln schicken, lassen Ratschläge und Zurechtweisungen nicht lange auf sich warten. Und natürlich gibt es diesen Katalog von Fragen, die nur schlecht mit Wohlwollen getarnt sind: „Willst du wirklich einen Kaiserschnitt machen lassen? Sind die Haare des Jungen nicht etwas lang? Hat sich das Mädchen wirklich ein rosa Kleid ausgesucht? Willst du schon wieder arbeiten gehen? Willst du nicht langsam wieder arbeiten gehen?“Und so fort. Ständig sagt man Müttern, manchmal auch Vätern, was sie tun und lassen sollten. Und weil das längst ein internationales Phänomen ist, gibt es ein englisches Schlagwort dafür: Mom-Shaming, das Herabsetzen von Müttern.
In einer der wenigen Studien zum Thema, einer nationalen Umfrage in den USA von der Universität Michigan, gaben sechs von zehn Müttern an, für ihren Erziehungsstil Kritik zu erfahren, die sie verletzt und verunsichert. Das hat auch damit zu tun, dass Frauen die gesellschaftliche Erwartung, sie seien für alles verantwortlich, was die Entwicklung des
Kindes angeht, verinnerlicht haben, sagt die Kleinkindpädagogin und Autorin Susanne Mierau. „Kinder kommen aber schon sehr individuell ins Leben und wenn sie sich anders entwickeln als die gesellschaftliche Norm, ist das nicht die ,Schuld’ der Mutter.“Dieses falsche Zuständigkeitsgefühl wirke sich doppelt negativ aus. Es greift das Selbstwertgefühl der Mütter an und verhindert manchmal, dass Frauen bei Problemen die richtige Hilfe für ihr Kind in Anspruch nehmen. Sie sehen die Ursachen ja ausschließlich bei sich und werden von der zurechtweisenden Umgebung darin bestärkt.
Nun könnte man sagen, dass das komplexe Verhältnis von Eltern und Kind schon in früheren Zeiten Großeltern, Geschwister, Freunde oder gänzlich Unbeteiligte verleitet hat, ungefragt Ratschläge zu erteilen. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass Außenstehende zwar nicht gefragt sind, wenn es um höchst private Entscheidungen etwa zu Disziplin, Ernährung, Spielstil und Medienkonsum geht. Doch haben sie das Gefühl, dass da eine Generation geformt wird, mit der sie selbst zusammenleben werden. Die Kabarettisten Pigor und Eichhorn haben das in einem Song auf die Spitze getrieben. Der erzählt von den prekär erzogenen „Kevins“dieser Welt und spielt durch, wie sie in verantwortliche Jobs gelangen: „Auch, wenn er das Wort ,Chirurg‘ nich ganz richtig buchstabiert/ Es ist ein Kevin, der dich bald operiert“, heißt es in dem Lied. Das ist satirischer Kulturpessimismus, zeigt aber, dass die gesellschaftliche Perspektive das Gefühl wecken kann, sich für etwas zuständig zu fühlen, das eigentlich anderer Leute Sache ist.
Dazu gibt es natürlich ein Machtgefälle zwischen Eltern und Kind, das bei Beobachtern das Gefühl wecken kann, sie müssten zum Wohle des Kindes einschreiten. In Erziehungsstilen
spiegelt sich zudem der Zeitgeist, es gibt Moden und die Übersteigerung von Moden. Das sorgt dann schon mal für Unverständnis zwischen den Generationen – und ungefragten Kommentaren zu laktosefreier Ernährung oder gendersensibler Erziehung. Schließlich bietet es natürlich einigen Unterhaltungswert, wenn Eltern sich mit ihren Kleinen abmühen. Das beobachten Besserwisser gern – mit dem guten Gefühl, sie selbst hätten die Situation besser im Griff gehabt.
Doch neben all diesen Erklärungsversuchen offenbart das Phänomen Mom-Shaming wohl doch noch etwas Tieferliegendes: eine Anspannung in der Gesellschaft, einen Mangel an Großzügigkeit und Toleranz, eine biestige Verkrampfung, die oft ein Zeichen von Angst ist. Die einen erziehen so, die anderen anders. Wenn das keine Privatsache mehr sein darf, wenn zu viele Menschen plötzlich denken, sie wüssten, wie es richtig geht, und müssten das ungefragt mitteilen, dann verengt sich da etwas im Miteinander. Dann gehen notwendige Freiräume verloren, die dem Einzelnen garantieren, unangetastet leben – und erziehen – zu dürfen. Ja, auch mit Fehlern. Die mangelnde Gelassenheit beim Thema offenbart, dass es anscheinend tiefsitzende Befürchtungen gibt, etwas entwickle sich ungut in Deutschland. Die Jugend werde durch zu viel oder zu wenig Fürsorge nicht gut gerüstet für alles, was kommt. Letztlich sind das Abstiegsängste, die unter all den scheinbar gut gemeinten Tipps und Zurechtweisungen hervorgucken. Und auf Mütter übertragen werden.
Das heißt nicht, dass man nicht auch mal genervt sein darf, wenn überforderte Kleinkinder beim Bäcker abwägen sollen, ob sie lieber Dinkelstange oder Weckmann wollen. Mit Rosinen oder ohne. Jetzt oder gleich. Doch sollte es ein Polster der Gelassenheit geben, solche Situationen auszuhalten. Kommentarlos. Stattdessen liegen die Nerven oftmals blank, ist der Ton gereizt, wird aus Ratschlag Herabwürdigung. Schon ist aus einer harmlosen Alltagsszene ein entwürdigendes Erlebnis geworden, das einer Mutter womöglich lange nachhängt.
So hat Mom-Shaming natürlich auch etwas mit der Stellung von
Frauen in der Gesellschaft zu tun. Zwar gibt es auch Dad-Shaming, wie eine weitere nationale Umfrage der Universität Michigan aus dem vergangenen Jahr zeigt. 52 Prozent der befragten Väter gaben darin an, schon einmal wegen ihres Spielstils, der Ernährung oder ihres vermeintlich zu rauen Umgangs mit ihren Kindern herabgewürdigt worden zu sein. Die meisten Väter hören Kritik allerdings von ihren Partnern, von Großeltern oder eigenen Freunden, nicht so sehr von Unbekannten in der Öffentlichkeit. Bei Frauen hingegen scheint die Hemmschwelle, ungefragt in ihren Privatbereich einzudringen und auszuteilen, niedriger zu sein. Das gilt ja auch für andere „Frauenthemen“. Zum Beispiel für die Frage, ob Frauen überhaupt Kinder wollen. Auch da wird ihnen die Hoheit über das eigene Leben oft von der besorgten Gesellschaft abgesprochen. Die Autorin und fünffache Mutter Katharina Pommer legt in ihrem Buch „Stop Mom-Shaming“(Goldegg) einen Zehnpunkte-Plan vor, mit dem die allgemeine Verunsicherung von Müttern bekämpft werden sollte. Darin geht es vor allem um die Selbstermächtigung von Frauen: keinen falschen Idealen nachhecheln, Bedürfnisse klar kommunizieren, eigene Grenzen akzeptieren und sich mit Menschen umgeben, die respektvoll und wertschätzend mit einem umgehen.
Die Väter-Befragung in den USA ergab, dass Verunsicherung und Entmutigung häufig die Folge von Kritik am Erziehungsstil sind. Die Kritiker bewirken also wenig Gutes. Frauen und Mütter sollten im Wissen bestärkt werden, dass in Erziehungsfragen individuelle Wege richtig sind, sagt Susanne Mierau. Wenn Mütter dann trotzdem für ihre Entscheidungen angegriffen werden, sollten sie möglichst sachlich Grenzen setzen: Das ist meine Familie, das entscheiden wir. „Ratschläge etwa von Großeltern kommen oft aus einer anderen Zeit, in der andere Erziehungsstile gepflegt wurden“, sagt Mierau. „Es hilft, wenn alle Beteiligten sich klarmachen, dass auch Erziehungsfragen einem gesellschaftlichen Wandel unterliegen, dass Kinder heute anderen Anforderungen genügen müssen und dass jede Familie selbst herausfinden darf, welchen Weg sie geht.“