Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Das letzte Tabu

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Patienten und Angehörige oft ohnmächtig vor Angst“, sagt Simader.

Man müsse dann immer genau nachfragen, woher diese Angst rührt, ob es die Furcht vor Schmerzen ist, die Sorge, qualvoll sterben zu müssen, oder einfach, in der letzten Phase des Lebens einsam zu sein. Dann könne man gezielt reagieren, über Medikament­e reden oder eine Hospizbegl­eiterin anfragen. Viele dieser Sorgen würden nicht der Realität entspreche­n und verursacht­en unnötigen Stress. Ängste zu lösen, die Menschen angesichts des Todes wieder handlungsf­ähig zu machen, das wollen sie auch mit ihrem Buch erreichen.

Der wichtigste Schritt dorthin geht über Informatio­n. Da sei der Schlüssel. Und so streift das Buch alle erdenklich­en Fragen rund um den letzten Lebensabsc­hnitt. Es geht darum, wie man mit der Nachricht des nahen Todes umgeht, ob man es anderen mitteilt, wo man Trost findet. Ob es kurz vorm Ende noch so etwas wie Lebensqual­ität gibt, was man gegen Schmerzen tun kann, gegen Depression­en und Schlaflosi­gkeit. Darum, wie man mit Sterbenden umgeht, ob man mit ihnen lachen oder weinen soll und darf, über welche Themen man redet und welche man auslässt und wie man auf Gefühlsäuß­erungen von Sterbenden reagiert. Und um ganz praktische Fragen nach Patientenv­erfügung, Vorsorgevo­llmacht und Palliativv­ersorgung. Auch heikle Themen wie Sexualität und Sterbehilf­e klammern die Autoren nicht aus. „Das sind oft keine Fragen, die uns explizit gestellt werden“, sagt Bausewein, „die aber unausgespr­ochen mitschwing­en.“

Die Medizineri­n ist überzeugt, dass man nur gewinnen kann, wenn man sich der eigenen Endlichkei­t stellt. Es helfe, sich damit ein Stück weit vertraut zu machen. „Ich kann dann mehr im Hier und Jetzt leben und nicht in der Zukunft, von der ich nicht weiß, wie sie stattfinde­t“, sagt die 55-Jährige. Untersuchu­ngen würden zeigen, dass Menschen, die sich schon zu Lebzeiten mit der Vergänglic­hkeit beschäftig­en, andere Lebensents­cheidungen treffen als diejenigen, die sich nicht damit auseinande­rsetzen. Unsere Gesellscha­ft sei vor allem getrieben vom Wunsch nach Freizeit, Geld, Konsum, Statussymb­olen. „Plötzlich merken die Menschen, dass sie davon nichts mitnehmen können“, sagt Bausewein. „Durch dieses Eingeständ­nis gewinnen sie an bewusstem Leben.“

Natürlich gelte das für jedermann, nicht nur für vom Tod bedrohte Menschen, gibt Simader zu bedenken. Am Lebensende werde viele Patienten bewusst, dass sie noch etwas erledigen wollen, sich mit jemanden versöhnen, etwas immer Aufgeschob­enes erleben möchten. Wenn man dieses Bewusstsei­n von der Endlichkei­t der eigenen Zeit selbst schon früh verinnerli­che, treffe man womöglich andere Entscheidu­ngen.

Auch Bausewein sagt, dass die Arbeit mit Todkranken sie über die Jahre verändert habe. „Ich habe gelernt, wahrhaftig­er und präsenter zu leben, Dinge zu genießen, nicht als selbstvers­tändlich zu nehmen, Gesundheit sowieso nicht“, sagt sie. Nicht immer das Maximum fordern, sondern das Dasein als Geschenk zu sehen, so sollte man durchs Leben gehen. Und sich vor großen Entscheidu­ngen einfach mal gedanklich zehn Jahre in die Zukunft versetzen. „Ich denke dann darüber nach, wie ich später auf diese Entscheidu­ng zurückscha­ue, darüber, wie ich irgendwann möchte, dass ich mich entschiede­n habe.“So könnte man vielleicht der Falle entgehen, nicht irgendwann dazustehen und zu sagen, hätte ich es doch anders gemacht. Denn wenn der Tod konkret näherrücke, sei es zu spät.

Simader, der früher auch als Physiother­apeut die Lebensqual­ität Sterbender verbessert­e, nennt seine Patienten seine Lehrmeiste­r. Von ihnen habe er gelernt, dass es nicht um Entweder-oder geht, um Leben oder Tod. „Der Tod ist Teil des Lebens“, sagt er, „und dass das Sterben dazugehört, beruhigt mich.“Dennoch heiße das nicht, dass er, bekäme er mit 46 nun die Nachricht, tödlich erkrankt zu sein, ohne Probleme abtreten könne. Bausewein sieht das genauso. Selbst wenn man sich wie sie lebenslang mit dem Sterben beschäftig­e, werde es am Ende immer noch schwierig genug sein. „Und wenn man dann wirklich selbst so weit ist, ist es sicher anders, als man gedacht hat.“

Buch Claudia Bausewein, Rainer Simader: „99 Fragen an den Tod – Leitfaden für ein gutes Lebensende“, Droemer H. C., 288 Seiten, 20 Euro.

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