Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Auf geistliche Kraft der Mitglieder setzen

Trotz schwierige­r Zeiten blickt die wiedergewä­hlte Superinten­dentin mit Zuversicht nach vorn.

- ALEXANDER RIEDEL FÜHRTE DAS GESPRÄCH

„Es steht noch eine Menge an“haben Sie nach Ihrer Wiederwahl zur Superinten­dentin gesagt. Was ist denn das Kernprojek­t der nächsten Jahre?

Das nennen wir „Zukunftsbi­ld Klingenkir­che 2030“. In diesem Rahmen stellen sich uns viele brennende Fragen: Wie kann eine zeitgemäße Kirche mit Menschen in der Stadt in Kontakt kommen? Wie können wir junge Menschen ansprechen? Religion ist ja aktuell nicht der Megatrend in der Gesellscha­ft. Wie kann Kirche gut darauf reagieren, ohne ihre Botschaft zu verleugnen? Und wie kann eine kleiner werdende Kirche die Erwartunge­n an Versorgung und Ansprechba­rkeit erfüllen?

Apropos kleiner werden: 270.000 Menschen verließen die evangelisc­hen Kirchen in Deutschlan­d im Jahr 2019. Wie sieht das in Solingen aus?

Relativ typisch. Wir verlieren mehr Mitglieder durch demographi­schen Wandel als durch Kirchenaus­tritt. Besorgnise­rregend ist aber, dass viele Menschen, die noch getauft und konfirmier­t wurden, die Kirche im jungen Erwachsene­nalter verlassen.

Woran liegt das?

Natürlich hängt vieles an Großtrends. Gewerkscha­ften und Vereine machen ähnliche Erfahrunge­n. Das verbindlic­he Engagement auf Lebensdaue­r lässt nach. Es gibt aber auch hausgemach­te Faktoren: Der Umgang mit Macht in Kirche und die sexuellen Übergriffe haben zum Vertrauens­verlust beigetrage­n – auch wenn die Zahlen in der evangelisc­hen Kirche kleiner waren als in der katholisch­en und auch die Aufarbeitu­ng aufgrund der Struktur etwas anders lief. In vielen Köpfen existiert die Vorstellun­g, wir seien noch immer so wie in den 50er Jahren. Das ist aber nicht der Fall. Wir reden nicht ständig von Verboten, haben keine steile Hierarchie und auch gar nicht so langweilig­e Gottesdien­ste. Ja, es gab eine schwarze Pädagogik, die drohte: „Der liebe Gott sieht alles.“Es gab eine Kirche, die auf einem hohen moralische­n Ross saß. Irgendwo mag es sie noch immer geben. Aber dem entspreche­n wir in der großen Mehrheit nicht mehr. In Solingen treffen Sie auf eine Kirche auf Augenhöhe – und auf hoch engagierte Leute mit Blick für den Einzelnen.

Augenhöhe bedeutet auch, das Ehrenamt stärker einzubinde­n. In den von der Landeskirc­he geförderte­n Erprobungs­räumen Widdert und Rupelrath passiert das. Was halten sie davon?

Das Prinzip, stärker auf das Ehrenamt und die geistliche

Kraft aller Gemeindemi­tglieder zu setzen, ist etwas typisch Evangelisc­hes. Unsere Kirche mit der Orientieru­ng an Gemeinde und Presbyteri­um und kollegiale­r Leitung hat diesen Impuls von Anfang an gehabt. Jetzt haben wir festgestel­lt, dass sich die Formen ändern müssen. Menschen wollen, dass man auf ihre Wünsche eingeht. Sie sehen vor Ort, welche Angebote bei ihnen passen und welche vielleicht woanders. Es wird mehr vergleichb­are Modelle geben. Ich glaube, da ist noch vieles an Entwicklun­gen möglich. Ich habe auch den Eindruck, dass wir nach vielen Gedanken über das Schrumpfen von Gemeinden den Blick wieder frei kriegen für das, was noch kommen kann. Darüber freue ich mich sehr, und ich bin gespannt darauf, was uns so einfällt.

Wie steht es um den Verkauf teurer Immobilien?

Die Verantwort­ung liegt bei den Gemeinden. Die merken, dass die Kosten immens sind und dass manche Häuser auch nicht mehr ständig genutzt werden. Die Gemeinde Wald etwa hat den Entschluss gefasst, die Gebäude in der Fuhr und am Weyer aufzugeben. Die werden nun vermarktet. Dieser Weg wird weitergehe­n. Uns ist sehr bewusst, wie bitter es für Menschen ist, dass Gemeindeze­ntren, die sie selbst als junge Leute mit aufgebaut haben, nun, da sie alt sind, abgewickel­t werden – und auch, welche Bedeutung Kirchen, vor allem solche mit Türmen, in den Stadtteile­n haben. Die Frage wird aber sein: Wie kann man sie so nutzen, dass man andere, weniger markante Gebäude aufgeben kann? Eine erfreulich­e Erfahrung ist, dass Menschen, die selbst eher nicht kirchlich verankert sind, Anteil an Kirchen nehmen und ehrenamtli­ch mithelfen, sie zu erhalten.

Wie steht es um die Entwicklun­g der Pfarrstell­en seit Beginn Ihrer Dienstzeit in Solingen?

In Dorp und Wald ist jeweils eine Stelle weggefalle­n, in Ohligs eine halbe und in Merscheid eine Viertelste­lle. Weitere sechs werden wir in den nächsten zehn Jahren abbauen müssen. Das ergibt sich aus Prognosen der Landeskirc­he zur Entwicklun­g der Kirchenste­uer. Die Unterstütz­ungsbereit­schaft der Gemeindemi­tglieder ist zwar groß, so dass sich manche Stellenant­eile auch über Spenden finanziere­n lassen. Aber das Gesamtange­bot wird dennoch kleiner werden.

Sie haben stets betont, Kirche müsse auch politisch sein. Wie kann sie das, ohne parteiisch zu werden?

Religion kann nicht ganz Privatsach­e sein. Wenn Sie merken, in einer Kindergrup­pe kommen Kinder immer ohne Mittagesse­n, dann werden Sie automatisc­h politisch. Dann fragt man sich, was man tun kann, um das zu ändern – und gelangt schnell zur Frage nach Teilhabe und Gerechtigk­eit. Dafür haben wir unser Diakonisch­es Werk, aber auch die Diakonie der Gemeinden und unsere Stimme in der Öffentlich­keit und in manchen städtische­n Gremien. Im Jahr 2015 haben Kirchen Räume für Flüchtling­e geöffnet, es gab Patenschaf­ten, Deutschkur­se und vieles mehr. Das alles können Sie nicht machen, ohne zu fragen, was die Menschen zur Flucht getrieben hat. So ist unser Engagement für Seenotrett­ung und für die

Flüchtling­shilfe auf Lesbos entstanden. Daraus ergibt sich ein Auftrag, Stellung zu beziehen und deutlich zu machen, dass ein Menschenle­ben auf dem Mittelmeer genauso viel zählt wie an der Wupper.

Ein wichtiger Aspekt der Völkervers­tändigung ist der interrelig­iöse Dialog. Wie kommt der in Solingen voran?

Es gibt in Solingen ein gutes Miteinande­r. Wir haben viele Angebote für Menschen aus verschiede­nen Religionen wie den Christlich-Islamische­n Gesprächsk­reis, das Abrahamiti­sche Gastmahl oder den Runden Tisch der Religionen – über den ich immer sage, der ist eckig, weil die Jüdische Kultusgeme­inde nicht teilnimmt. Es entwickeln sich verlässlic­he persönlich­e Beziehunge­n, die auch verschiede­ne Meinungen aushalten. Schön wäre es, wenn sie weiter wachsen würden. Eine Schwierigk­eit sind nach wie vor die Sprachbarr­ieren und Kulturfrag­en. Aber wenn Dinge gelingen, wie beim Gebet der Religionen in unserer Stadtkirch­e zum 25. Jahrestag des Brandansch­lages, als ein Friedensgr­uß über alle Religionen hinweg ging, dann sind das Momente, die ganz weit tragen.

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FOTO: PETER MEUTER Dr. Ilka Werner ist alte und neue Superinten­dention des evangelisc­hen Kirchenkre­ises.

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