Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Auf geistliche Kraft der Mitglieder setzen
Trotz schwieriger Zeiten blickt die wiedergewählte Superintendentin mit Zuversicht nach vorn.
„Es steht noch eine Menge an“haben Sie nach Ihrer Wiederwahl zur Superintendentin gesagt. Was ist denn das Kernprojekt der nächsten Jahre?
Das nennen wir „Zukunftsbild Klingenkirche 2030“. In diesem Rahmen stellen sich uns viele brennende Fragen: Wie kann eine zeitgemäße Kirche mit Menschen in der Stadt in Kontakt kommen? Wie können wir junge Menschen ansprechen? Religion ist ja aktuell nicht der Megatrend in der Gesellschaft. Wie kann Kirche gut darauf reagieren, ohne ihre Botschaft zu verleugnen? Und wie kann eine kleiner werdende Kirche die Erwartungen an Versorgung und Ansprechbarkeit erfüllen?
Apropos kleiner werden: 270.000 Menschen verließen die evangelischen Kirchen in Deutschland im Jahr 2019. Wie sieht das in Solingen aus?
Relativ typisch. Wir verlieren mehr Mitglieder durch demographischen Wandel als durch Kirchenaustritt. Besorgniserregend ist aber, dass viele Menschen, die noch getauft und konfirmiert wurden, die Kirche im jungen Erwachsenenalter verlassen.
Woran liegt das?
Natürlich hängt vieles an Großtrends. Gewerkschaften und Vereine machen ähnliche Erfahrungen. Das verbindliche Engagement auf Lebensdauer lässt nach. Es gibt aber auch hausgemachte Faktoren: Der Umgang mit Macht in Kirche und die sexuellen Übergriffe haben zum Vertrauensverlust beigetragen – auch wenn die Zahlen in der evangelischen Kirche kleiner waren als in der katholischen und auch die Aufarbeitung aufgrund der Struktur etwas anders lief. In vielen Köpfen existiert die Vorstellung, wir seien noch immer so wie in den 50er Jahren. Das ist aber nicht der Fall. Wir reden nicht ständig von Verboten, haben keine steile Hierarchie und auch gar nicht so langweilige Gottesdienste. Ja, es gab eine schwarze Pädagogik, die drohte: „Der liebe Gott sieht alles.“Es gab eine Kirche, die auf einem hohen moralischen Ross saß. Irgendwo mag es sie noch immer geben. Aber dem entsprechen wir in der großen Mehrheit nicht mehr. In Solingen treffen Sie auf eine Kirche auf Augenhöhe – und auf hoch engagierte Leute mit Blick für den Einzelnen.
Augenhöhe bedeutet auch, das Ehrenamt stärker einzubinden. In den von der Landeskirche geförderten Erprobungsräumen Widdert und Rupelrath passiert das. Was halten sie davon?
Das Prinzip, stärker auf das Ehrenamt und die geistliche
Kraft aller Gemeindemitglieder zu setzen, ist etwas typisch Evangelisches. Unsere Kirche mit der Orientierung an Gemeinde und Presbyterium und kollegialer Leitung hat diesen Impuls von Anfang an gehabt. Jetzt haben wir festgestellt, dass sich die Formen ändern müssen. Menschen wollen, dass man auf ihre Wünsche eingeht. Sie sehen vor Ort, welche Angebote bei ihnen passen und welche vielleicht woanders. Es wird mehr vergleichbare Modelle geben. Ich glaube, da ist noch vieles an Entwicklungen möglich. Ich habe auch den Eindruck, dass wir nach vielen Gedanken über das Schrumpfen von Gemeinden den Blick wieder frei kriegen für das, was noch kommen kann. Darüber freue ich mich sehr, und ich bin gespannt darauf, was uns so einfällt.
Wie steht es um den Verkauf teurer Immobilien?
Die Verantwortung liegt bei den Gemeinden. Die merken, dass die Kosten immens sind und dass manche Häuser auch nicht mehr ständig genutzt werden. Die Gemeinde Wald etwa hat den Entschluss gefasst, die Gebäude in der Fuhr und am Weyer aufzugeben. Die werden nun vermarktet. Dieser Weg wird weitergehen. Uns ist sehr bewusst, wie bitter es für Menschen ist, dass Gemeindezentren, die sie selbst als junge Leute mit aufgebaut haben, nun, da sie alt sind, abgewickelt werden – und auch, welche Bedeutung Kirchen, vor allem solche mit Türmen, in den Stadtteilen haben. Die Frage wird aber sein: Wie kann man sie so nutzen, dass man andere, weniger markante Gebäude aufgeben kann? Eine erfreuliche Erfahrung ist, dass Menschen, die selbst eher nicht kirchlich verankert sind, Anteil an Kirchen nehmen und ehrenamtlich mithelfen, sie zu erhalten.
Wie steht es um die Entwicklung der Pfarrstellen seit Beginn Ihrer Dienstzeit in Solingen?
In Dorp und Wald ist jeweils eine Stelle weggefallen, in Ohligs eine halbe und in Merscheid eine Viertelstelle. Weitere sechs werden wir in den nächsten zehn Jahren abbauen müssen. Das ergibt sich aus Prognosen der Landeskirche zur Entwicklung der Kirchensteuer. Die Unterstützungsbereitschaft der Gemeindemitglieder ist zwar groß, so dass sich manche Stellenanteile auch über Spenden finanzieren lassen. Aber das Gesamtangebot wird dennoch kleiner werden.
Sie haben stets betont, Kirche müsse auch politisch sein. Wie kann sie das, ohne parteiisch zu werden?
Religion kann nicht ganz Privatsache sein. Wenn Sie merken, in einer Kindergruppe kommen Kinder immer ohne Mittagessen, dann werden Sie automatisch politisch. Dann fragt man sich, was man tun kann, um das zu ändern – und gelangt schnell zur Frage nach Teilhabe und Gerechtigkeit. Dafür haben wir unser Diakonisches Werk, aber auch die Diakonie der Gemeinden und unsere Stimme in der Öffentlichkeit und in manchen städtischen Gremien. Im Jahr 2015 haben Kirchen Räume für Flüchtlinge geöffnet, es gab Patenschaften, Deutschkurse und vieles mehr. Das alles können Sie nicht machen, ohne zu fragen, was die Menschen zur Flucht getrieben hat. So ist unser Engagement für Seenotrettung und für die
Flüchtlingshilfe auf Lesbos entstanden. Daraus ergibt sich ein Auftrag, Stellung zu beziehen und deutlich zu machen, dass ein Menschenleben auf dem Mittelmeer genauso viel zählt wie an der Wupper.
Ein wichtiger Aspekt der Völkerverständigung ist der interreligiöse Dialog. Wie kommt der in Solingen voran?
Es gibt in Solingen ein gutes Miteinander. Wir haben viele Angebote für Menschen aus verschiedenen Religionen wie den Christlich-Islamischen Gesprächskreis, das Abrahamitische Gastmahl oder den Runden Tisch der Religionen – über den ich immer sage, der ist eckig, weil die Jüdische Kultusgemeinde nicht teilnimmt. Es entwickeln sich verlässliche persönliche Beziehungen, die auch verschiedene Meinungen aushalten. Schön wäre es, wenn sie weiter wachsen würden. Eine Schwierigkeit sind nach wie vor die Sprachbarrieren und Kulturfragen. Aber wenn Dinge gelingen, wie beim Gebet der Religionen in unserer Stadtkirche zum 25. Jahrestag des Brandanschlages, als ein Friedensgruß über alle Religionen hinweg ging, dann sind das Momente, die ganz weit tragen.