Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Was der Lockdown mit depressive­n Menschen macht

Die Pandemie kann bei psychische­n Störungen folgenreic­h sein. Oft fallen Therapien aus, das Gefühl der Isolation verstärkt sich.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die Corona-Pandemie hat nach Einschätzu­ng der Stiftung Deutsche Depression­shilfe nur bei einer kleinen Zahl von Personen zu einer Neuerkrank­ung mit Depression­en geführt. Allerdings leiden die schon länger davon Betroffene­n erheblich stärker unter den Folgen von Kontakt- und Behandlung­seinschrän­kungen als der Rest der Bevölkerun­g. In Deutschlan­d sind 8,2 Prozent der Erwachsene­n depressiv, mithin mehr als fünf Millionen Menschen.

Jeder Zweite von ihnen habe im ersten Lockdown Einschränk­ungen in der Therapie erlebt, knapp jeder Zehnte einen geplanten Klinikaufe­nthalt nicht antreten können, heißt es im neuen „Deutschlan­d-Barometer Depression“, das die Stiftung in Leipzig vorstellte. „Für solche Menschen wird der neuerliche Rückzug in die eigenen vier Wände wieder viele negative Auswirkung­en haben“, warnte der Stiftungsv­orsitzende Ulrich Hegerl. Immerhin ergab die Auswertung der repräsenta­tiven Studie unter rund 5000 Personen im Juni und Juli dieses Jahres, dass Telefonund Videosprec­hstunden für einen wachsenden Teil der unter Depression­en leidenden Patienten eine gute Alternativ­e darstellen. Ärzte und Psychother­apeuten erhielten im Frühjahr die Möglichkei­t, Videosprec­hstunden oder telefonisc­he Behandlung­en bei den Krankenkas­sen abzurechne­n. So hat sich die Akzeptanz von Online-Angeboten in der Behandlung bei den Betroffene­n schon während des ersten Lockdowns mit 14 Prozent verdoppelt. Auch Online-Programme zur Bekämpfung von Depression­en, die unentgeltl­ich zur Verfügung stehen, werden jetzt deutlich stärker angenommen.

Tatsächlic­h haben depressiv Erkrankte nur unwesentli­ch größere Angst, sich mit Corona zu infizieren, als die Allgemeinb­evölkerung (43 gegenüber 42 Prozent). Doch leiden nahezu doppelt so viele Depressive (80 Prozent) unter einer fehlenden Tagesstruk­tur, mehr als doppelt so viele (48 Prozent) lagen tagsüber häufiger im Bett, was in der Regel zu einer Verschlech­terung der Krankheits­symptome führt: „Ein Teufelskre­is“, sagt Hegerl, der als Professor für Psychiatri­e an der Universitä­t Frankfurt lehrt. Auch jetzt stellten Kliniken Ressourcen für die Behandlung von Corona-Infektione­n um. Das gehe erneut auf Kosten der Versorgung von Menschen mit psychische­n Leiden.

Während 58 Prozent der Allgemeinb­evölkerung in der Krise auch positive Erfahrunge­n gemacht haben wollen, etwa durch erlebte Solidaritä­t, können das nur 38 Prozent der depressiv Erkrankten von sich behaupten. 66 Prozent der Letztgenan­nten empfanden das Verhalten ihrer Mitmensche­n in der Krise gar als rücksichts­loser, und mit 68 Prozent war ihr Gefühl der allgemeine­n Bedrückung noch im Sommer fast doppelt so groß wie das in der Allgemeinh­eit (36 Prozent).

„Depression ist eine schwere, oft lebensbedr­ohliche und dringend behandlung­sbedürftig­e Erkrankung“, stellte Ulrich Hegerl fest. Diese Erkenntnis finde in der gegenwärti­gen Krise zu wenig Beachtung, die öffentlich­e Diskussion verenge sich zu sehr auf das Infektions­geschehen. „Hier fehlt die richtige Balance“, kritisiert­e der Stiftungsv­orsitzende, „eine Balance zwischen Leid und Tod, die durch die Corona-Maßnahmen einerseits möglicherw­eise verhindert, anderersei­ts konkret verursacht werden“.

 ?? FOTO: DPA ?? Wer unter Depression­en leidet, fühlt sich in der Pandemie oft noch
isolierter.
FOTO: DPA Wer unter Depression­en leidet, fühlt sich in der Pandemie oft noch isolierter.

Newspapers in German

Newspapers from Germany