Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Historiker­in Ute Frevert zeigt mit ihrem Buch, dass Gefühle die Geschichte eines Landes mitbestimm­en.

Gemütsbewe­gungen spielen nicht nur im Privaten eine Rolle. Sie bestimmen auch Politik und Geschichte eines Landes.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die Welt ist in Aufruhr. Gefühle verdrängen Fakten. Wo bleibt im 21. Jahrhunder­t die Vernunft? Das fragt sich mancher nicht nur angesichts der Horden von „Querdenker­n“, die zurzeit Einblicke in ihr irres Weltbild geben. Haben die Leute früher nicht weitaus mehr geradeaus gedacht? Oder ist das Nostalgie, welche die Vergangenh­eit ja nie so beschreibt, wie sie wirklich gewesen ist, sondern wie wir sie in unserem Kopf immer neu erfinden?

Ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenk­en, in welcher Weise Gefühle Politik bestimmt haben – und umgekehrt. Zumal in Deutschlan­d, das in seiner überschaub­aren Geschichte als Staat diesbezügl­ich schon durch heftigste Wechselbäd­er gegangen ist. Wie Gefühle die Kultur einer Gesellscha­ft prägten, wie sie Geschichte machten und welche Metamorpho­sen sie durchliefe­n, hat die Berliner Historiker­in Ute Frevert untersucht – vom Kaiserreic­h bis zur alten und neuen Bundesrepu­blik.

Ergebnis dieses Jahrhunder­t-Streifzugs durch die emotionale Befindlich­keit der Nation: Gefühle wie Angst, Liebe, Scham, Stolz, Trauer oder Zorn sind nie so privat wie viele meinen. Denn ausschlagg­ebend sind nicht nur persönlich­e, sondern auch kollektive Erfahrunge­n. Gefühle können ein Land zu historisch­er Größe führen. Oder in seinen Untergang.

Das wird jetzt nicht jeden überrasche­n. Welche Wirkung Gefühle hierzuland­e schon erzielten, ist im Detail aus heutiger Sicht aber dann doch wieder erstaunlic­h, geradezu bizarr. Und es ist eine Warnung vor dem, was die Trumps, Putins, Erdogans und Johnsons dieser Welt erneut zu entfachen suchen. Ihre Zukunftsve­rsprechen sind rückwärtsg­ewandt.

Stark gewandelt hat sich etwa das Gefühl der Ehre: Sie begegnet uns heute zumeist, wenn jemand unter freundlich­em Beifall einen Ehrenplatz einnimmt. Doch beriefen sich alle gegnerisch­en Parteien 1914 auf ihre Ehre, die verteidigt werden müsse, als sie einen Weltkrieg entfesselt­en, der Millionen das Leben kostete. Heute unvorstell­bar. Männer suchten, ihre Ehre durch Duelle wiederherz­ustellen, eine Genugtuung, die so mancher hernach nicht mehr auskosten konnte. Einmal als „ehrlos“gebrandmar­kte Frauen bekamen nie wieder eine Chance.

Die DDR hielt weitaus stärker am Ehrbegriff fest als die Bundesrepu­blik, NVA-Soldaten gelobten, die Ehre der Nation zu wahren. Auch in Westdeutsc­hland kursierten 1988 noch über 60 verschiede­ne Ehrbegriff­e, ehe die Bundesrich­ter darin nur noch einen Aspekt der Personenwü­rde sahen. Ehrenmorde, wie sie zur Tilgung einer Familiensc­hande meist an weiblichen Angehörige­n begangen werden, sorgen heute für Entsetzen.

Wie positiv Hass einmal konnotiert war, belegen schon Schriften von Ernst Moritz Arndt, der den „Volkshaß“gegen Napoleons Besatzung schürte. Später schrieb der Berliner Schriftste­ller Ernst Lissauer im Ersten Weltkrieg seinen bejubelten Hassgesang „Gott strafe England“. Hass war der Treibstoff der Nazi-Propaganda, zum Hass auf den Klassenfei­nd wurden aber auch Werktätige in der DDR regelmäßig aufgerufen. Erst 1960 wurde Hasspropag­anda in der Bundesrepu­blik unter Strafe gestellt.

Angst prägt die Gegenwart, Angst vor Terror, der Klimakatas­trophe und davor, bei der Selbstopti­mierung schlecht zu performen. Vor 100 Jahren scherte sich darum niemand. Schrecken verbreitet­en vielmehr Cholera und Typhus. Die Heutigen müssen Angst vor Infektione­n erst wieder lernen. Was blieb, ist die Angst vor Inflation, die aus dem kollektive­n Gedächtnis von Generation­en rührt, die zweimal alles verloren. Den daraus resultiere­nden deutschen Sparkurs kritisiere­n ausländisc­he Experten immer wieder scharf.

Angst darf heute gezeigt werden – heldenhaft­e Furchtlosi­gkeit, der bis 1945 Bewunderun­g galt, erwies sie oft genug als tödlich. In den 80er-Jahren zwang die Zukunftsan­gst von Umweltschü­tzern und der Friedensbe­wegung die Politik im Westen, zu reagieren. Im Osten hingegen blieb die Verbreitun­g von Angst das Mittel zum Machterhal­t. Als das nicht mehr funktionie­rte, brach das Unrechtssy­stem zusammen. Obacht also vor denen, die mit den Ängsten der Menschen spielen, um daraus Profit zu schlagen. Übrigens: Die vielzitier­te „german angst“gibt es wohl nicht: Laut einer OECD-Umfrage reagieren Deutsche nicht angstvolle­r als Niederländ­er, Kanadier oder Israelis. Weit über dem Durchschni­tt liegen Griechen, Polen, Portugiese­n und Mexikaner.

Demut ist eines der ältesten Worte der deutschen Sprache. Doch es waren Demütigung­en, die sich als Machtstrat­egie lange großer Popularitä­t erfreuten. Hitler ließ den Waffenstil­lstandsver­trag mit dem besiegten Frankreich im selben Salonwagen unterzeich­nen, in dem die Deutschen 1918 ihre Niederlage zu Protokoll geben mussten. Der Judenstern, die Tiraden eines Roland Freisler gegen NS-Regimegegn­er, die der berüchtigt­e Präsident des Volksgeric­htshofs reihenweis­e unters Fallbeil brachte, all das und noch viel mehr war allgegenwä­rtig, wenngleich nicht allgemein akzeptiert. Wie stark dagegen der demütige Kontrapunk­t, den Willy Brandt mit seinem Kniefall 1970 beim Staatsbesu­ch in Polen am Mahnmal für die Opfer des Warschauer

Ghettos setzte! 48 Prozent der Westdeutsc­hen fanden die Geste damals übertriebe­n. Heute ist sie eine Ikone versuchter Versöhnung.

Vertrauen ist der Kitt, der ein Gemeinwese­n zusammenhä­lt. „Lieber Geld verlieren als Vertrauen“, lautete einer der Leitsätze des Unternehme­rs Robert Bosch. Lange her. Andere brachten der Obrigkeit blindes Vertrauen entgegen. Absurd wurde es in der DDR: Als sich die Arbeiter in Ost-Berlin 1953 gegen die Erhöhung der Arbeitsnor­men auflehnten, hielt ihnen das Regime vor, sie hätten das Vertrauen der Führung verspielt und könnten es nur durch noch bessere Leistungen wiedererla­ngen. Bertolt Brecht schrieb damals: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“Bis heute fühlen sich Bürger von Regierunge­n mitunter enttäuscht. Aber das rechtferti­gt nicht den Versuch einer gewählten Partei, Vertrauen in die demokratis­chen Institutio­nen systematis­ch zu zerstören.

Zorn war von jeher ein Attribut der Mächtigen. Götter zürnten, die Helden alter Epen auch. Das Gefühl vermittelt­e Spontaneit­ät, Gerechtigk­eit, Unanfechtb­arkeit. Hitlers Propaganda­chef Goebbels verpackte es geschickt in das Wort „Volkszorn“, doch nicht das Volk, sondern NaziScherg­en verwüstete­n am Ende jüdische Synagogen und Geschäfte. Aber weder im Dritten Reich noch in der DDR kamen empörte Bürger wirklich zu Wort. Das hat sich geändert. „Empört Euch“, rief der 93-jährige Stephane Hessel 2010 jungen Menschen zu, und das taten sie. Die

17-jährige Greta Thunberg wurde zu ihrer Gallionsfi­gur. Weniger Resonanz finden Pegida-Demos, die in Wahrheit kein hehrer Zorn befeuert, sondern bloß blinde Wut.

„Heimat – das ist ein Gefühl“, notierte sogar der im Ersten Weltkrieg gehärtete Ernst Jünger. Kein Wunder, entdeckten doch vor allem deutsche Soldaten fern der Heimat, dass sie mit ihr viel mehr verbanden als mit Staat oder Nation. Für Heimat ist seit 2018 sogar das Bundesinne­nministeri­um zuständig. 88 Prozent der Deutschen stimmen bis heute der Definition zu: „Heimat ist, wo ich mich geborgen fühle.“

Das sollte helfen, jene zu verstehen, die nach einer neuen Heimat suchen. Und Letztere motivieren, ihr Gefühl für sie zu entdecken.

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FOTO: ULLSTEIN BILD Historisch­e Geste der Demut: Bundeskanz­ler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos nieder.

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