Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Historikerin Ute Frevert zeigt mit ihrem Buch, dass Gefühle die Geschichte eines Landes mitbestimmen.
Gemütsbewegungen spielen nicht nur im Privaten eine Rolle. Sie bestimmen auch Politik und Geschichte eines Landes.
Die Welt ist in Aufruhr. Gefühle verdrängen Fakten. Wo bleibt im 21. Jahrhundert die Vernunft? Das fragt sich mancher nicht nur angesichts der Horden von „Querdenkern“, die zurzeit Einblicke in ihr irres Weltbild geben. Haben die Leute früher nicht weitaus mehr geradeaus gedacht? Oder ist das Nostalgie, welche die Vergangenheit ja nie so beschreibt, wie sie wirklich gewesen ist, sondern wie wir sie in unserem Kopf immer neu erfinden?
Ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, in welcher Weise Gefühle Politik bestimmt haben – und umgekehrt. Zumal in Deutschland, das in seiner überschaubaren Geschichte als Staat diesbezüglich schon durch heftigste Wechselbäder gegangen ist. Wie Gefühle die Kultur einer Gesellschaft prägten, wie sie Geschichte machten und welche Metamorphosen sie durchliefen, hat die Berliner Historikerin Ute Frevert untersucht – vom Kaiserreich bis zur alten und neuen Bundesrepublik.
Ergebnis dieses Jahrhundert-Streifzugs durch die emotionale Befindlichkeit der Nation: Gefühle wie Angst, Liebe, Scham, Stolz, Trauer oder Zorn sind nie so privat wie viele meinen. Denn ausschlaggebend sind nicht nur persönliche, sondern auch kollektive Erfahrungen. Gefühle können ein Land zu historischer Größe führen. Oder in seinen Untergang.
Das wird jetzt nicht jeden überraschen. Welche Wirkung Gefühle hierzulande schon erzielten, ist im Detail aus heutiger Sicht aber dann doch wieder erstaunlich, geradezu bizarr. Und es ist eine Warnung vor dem, was die Trumps, Putins, Erdogans und Johnsons dieser Welt erneut zu entfachen suchen. Ihre Zukunftsversprechen sind rückwärtsgewandt.
Stark gewandelt hat sich etwa das Gefühl der Ehre: Sie begegnet uns heute zumeist, wenn jemand unter freundlichem Beifall einen Ehrenplatz einnimmt. Doch beriefen sich alle gegnerischen Parteien 1914 auf ihre Ehre, die verteidigt werden müsse, als sie einen Weltkrieg entfesselten, der Millionen das Leben kostete. Heute unvorstellbar. Männer suchten, ihre Ehre durch Duelle wiederherzustellen, eine Genugtuung, die so mancher hernach nicht mehr auskosten konnte. Einmal als „ehrlos“gebrandmarkte Frauen bekamen nie wieder eine Chance.
Die DDR hielt weitaus stärker am Ehrbegriff fest als die Bundesrepublik, NVA-Soldaten gelobten, die Ehre der Nation zu wahren. Auch in Westdeutschland kursierten 1988 noch über 60 verschiedene Ehrbegriffe, ehe die Bundesrichter darin nur noch einen Aspekt der Personenwürde sahen. Ehrenmorde, wie sie zur Tilgung einer Familienschande meist an weiblichen Angehörigen begangen werden, sorgen heute für Entsetzen.
Wie positiv Hass einmal konnotiert war, belegen schon Schriften von Ernst Moritz Arndt, der den „Volkshaß“gegen Napoleons Besatzung schürte. Später schrieb der Berliner Schriftsteller Ernst Lissauer im Ersten Weltkrieg seinen bejubelten Hassgesang „Gott strafe England“. Hass war der Treibstoff der Nazi-Propaganda, zum Hass auf den Klassenfeind wurden aber auch Werktätige in der DDR regelmäßig aufgerufen. Erst 1960 wurde Hasspropaganda in der Bundesrepublik unter Strafe gestellt.
Angst prägt die Gegenwart, Angst vor Terror, der Klimakatastrophe und davor, bei der Selbstoptimierung schlecht zu performen. Vor 100 Jahren scherte sich darum niemand. Schrecken verbreiteten vielmehr Cholera und Typhus. Die Heutigen müssen Angst vor Infektionen erst wieder lernen. Was blieb, ist die Angst vor Inflation, die aus dem kollektiven Gedächtnis von Generationen rührt, die zweimal alles verloren. Den daraus resultierenden deutschen Sparkurs kritisieren ausländische Experten immer wieder scharf.
Angst darf heute gezeigt werden – heldenhafte Furchtlosigkeit, der bis 1945 Bewunderung galt, erwies sie oft genug als tödlich. In den 80er-Jahren zwang die Zukunftsangst von Umweltschützern und der Friedensbewegung die Politik im Westen, zu reagieren. Im Osten hingegen blieb die Verbreitung von Angst das Mittel zum Machterhalt. Als das nicht mehr funktionierte, brach das Unrechtssystem zusammen. Obacht also vor denen, die mit den Ängsten der Menschen spielen, um daraus Profit zu schlagen. Übrigens: Die vielzitierte „german angst“gibt es wohl nicht: Laut einer OECD-Umfrage reagieren Deutsche nicht angstvoller als Niederländer, Kanadier oder Israelis. Weit über dem Durchschnitt liegen Griechen, Polen, Portugiesen und Mexikaner.
Demut ist eines der ältesten Worte der deutschen Sprache. Doch es waren Demütigungen, die sich als Machtstrategie lange großer Popularität erfreuten. Hitler ließ den Waffenstillstandsvertrag mit dem besiegten Frankreich im selben Salonwagen unterzeichnen, in dem die Deutschen 1918 ihre Niederlage zu Protokoll geben mussten. Der Judenstern, die Tiraden eines Roland Freisler gegen NS-Regimegegner, die der berüchtigte Präsident des Volksgerichtshofs reihenweise unters Fallbeil brachte, all das und noch viel mehr war allgegenwärtig, wenngleich nicht allgemein akzeptiert. Wie stark dagegen der demütige Kontrapunkt, den Willy Brandt mit seinem Kniefall 1970 beim Staatsbesuch in Polen am Mahnmal für die Opfer des Warschauer
Ghettos setzte! 48 Prozent der Westdeutschen fanden die Geste damals übertrieben. Heute ist sie eine Ikone versuchter Versöhnung.
Vertrauen ist der Kitt, der ein Gemeinwesen zusammenhält. „Lieber Geld verlieren als Vertrauen“, lautete einer der Leitsätze des Unternehmers Robert Bosch. Lange her. Andere brachten der Obrigkeit blindes Vertrauen entgegen. Absurd wurde es in der DDR: Als sich die Arbeiter in Ost-Berlin 1953 gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen auflehnten, hielt ihnen das Regime vor, sie hätten das Vertrauen der Führung verspielt und könnten es nur durch noch bessere Leistungen wiedererlangen. Bertolt Brecht schrieb damals: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“Bis heute fühlen sich Bürger von Regierungen mitunter enttäuscht. Aber das rechtfertigt nicht den Versuch einer gewählten Partei, Vertrauen in die demokratischen Institutionen systematisch zu zerstören.
Zorn war von jeher ein Attribut der Mächtigen. Götter zürnten, die Helden alter Epen auch. Das Gefühl vermittelte Spontaneität, Gerechtigkeit, Unanfechtbarkeit. Hitlers Propagandachef Goebbels verpackte es geschickt in das Wort „Volkszorn“, doch nicht das Volk, sondern NaziSchergen verwüsteten am Ende jüdische Synagogen und Geschäfte. Aber weder im Dritten Reich noch in der DDR kamen empörte Bürger wirklich zu Wort. Das hat sich geändert. „Empört Euch“, rief der 93-jährige Stephane Hessel 2010 jungen Menschen zu, und das taten sie. Die
17-jährige Greta Thunberg wurde zu ihrer Gallionsfigur. Weniger Resonanz finden Pegida-Demos, die in Wahrheit kein hehrer Zorn befeuert, sondern bloß blinde Wut.
„Heimat – das ist ein Gefühl“, notierte sogar der im Ersten Weltkrieg gehärtete Ernst Jünger. Kein Wunder, entdeckten doch vor allem deutsche Soldaten fern der Heimat, dass sie mit ihr viel mehr verbanden als mit Staat oder Nation. Für Heimat ist seit 2018 sogar das Bundesinnenministerium zuständig. 88 Prozent der Deutschen stimmen bis heute der Definition zu: „Heimat ist, wo ich mich geborgen fühle.“
Das sollte helfen, jene zu verstehen, die nach einer neuen Heimat suchen. Und Letztere motivieren, ihr Gefühl für sie zu entdecken.