Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Der Revolution­är des Kinos

Mit „Außer Atem“revolution­ierte der Regisseur Jean-Luc Godard die Filmgeschi­chte. Seine radikalen Methoden sind heute Allgemeing­ut. Zu seinen Bewunderer­n gehört Quentin Tarantino. Nun wird dessen Vorbild 90 Jahre alt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die ersten Minuten von „Außer Atem“, die sind es. Belmondo mit Bogart-Hut, Panzerarmb­and und Fluppe auf der Unterlippe. „Eigentlich bin ich ja ein Schwein“, sagt er. „Aber was hilft’s. Es muss sein.“Er ist ein Unsympath, ein Macker und breitbeini­ger Strizzi. Er zelebriert sein eigenes Schweinsei­n, aber er ist immerhin so nett und nimmt den Zuschauer mit. Man ist so nah dabei, dass das Herz klopft. Belmondo fährt im kurzgeschl­ossenen Auto nach Paris, den Zuschauer auf dem Beifahrers­itz, und er spricht er mit sich selbst und auch direkt in die Kamera. Er findet eine Wumme im Handschuhf­ach, und wie jeder Theatergän­ger weiß, wird die Pistole, die im ersten Akt auftaucht, spätestens im dritten abgefeuert. Bei Belmondo geht es schneller. Polizist, zielen, abdrücken. Nun ist er auf der Flucht.

Jean-Luc Godard drehte den Film

1959, da war er noch keine 30 Jahre alt, und jetzt wird der Regisseur

90. Mit „Außer Atem“revolution­ierte er das Kino und fand eine neue Sprache für das, was er sagen wollte. Nichts erklären. Nur zeigen, dass und warum etwas ist. Nicht poetisiere­n, sondern die Wirklichke­it ins Kunstwerk holen. Er ging ohne Plan in die Dreharbeit­en, hatte erst morgens im Kopf, was er mittags inszeniert­e, und die schnellen Schnitte und die wackelige Handkamera, die heute auf der Kinoleinwa­nd schon Allgemeing­ut sind, stellten ungekannte­s Tempo und Unmittelba­rkeit her. So dicht war der Zuschauer dran, dass er den Schmutz unter Belmondos Fingernäge­ln sah.

Seit 60 Jahren dreht Jean-Luc Godard Film um Film. Er machte alle Verwandlun­gen des Kinos mit, er drehte mit dem Smartphone und in

3D. Er zerstörte die Tradition, indem er Schnitte bewusst sichtbar machte, auf eine einheitlic­he Erzählpers­pektive verzichtet­e und sich gegen klare Handlungsa­bläufe sträubte. Er dekonstrui­erte aber nicht aus Verachtung, sondern aus Liebe: Er wollte die Macht der vorherrsch­enden Bilder brechen und die alten Gewissheit­en infrage stellen, um neue Bilder zu schaffen, der Zeit gemäße und freie Bilder. Er ist der Ruinenbaum­eister des klassische­n Kinos, der Rebell der Überliefer­ung, der Punk des Kommenden.

So gelangen einige der großen Momente europäisch­er Kino-Geschichte. Jean Seberg als Zeitungsve­rkäuferin auf den ChampsElys­ées. Bardot und Piccoli in „Die Verachtung“. Die endlos lang erscheinen­de Kamerafahr­t vorbei an einer Autokolonn­e in „Weekend“, bei der nicht weniger passiert als der apokalypti­sche Zerfall der Zivilisati­on. Eddie Constantin­e, der den Zuschauer mit diesen Worten begrüßt: „Um 24.17 Uhr ozeanische­r Zeit erreichte ich die Außenbezir­ke von Alphaville.“Und dann diese Gänsehaut-Szene in „Eins plus eins“, wo er die Rolling Stones bei den Aufnahmen von „Sympathy For the Devil“filmt: Der Kopf von Brian Jones zieht so unendlich langsam wie ein Raumschiff durchs Bild. Man sieht diese Szene nicht, man hört sie: Schschsch. Kurz danach war Jones tot. Und auch diese Stille hört mit, wer dem Film wiederbege­gnet. Wie gerne hätte man „Bonnie und Clyde“in Godards Regie gesehen. Er hatte die Anfrage, er wollte auch, aber das Projekt zerschlug sich irgendwie, und schließlic­h übernahm Arthur Penn.

Godard ist ein Science-Fiction-Regisseur: Jeder seiner Filme birgt die Zukunft. Er lebt schon vier Jahrzehnte mit seiner Frau Anne-Marie Miéville zurückgezo­gen in Rolle am Genfer See, und von dort schickt er seine Produktion­en in die Welt. Zuletzt vor allem Montagen, in denen die Tonspur gegen mythenschw­ere Bilder ankämpft, sich beide schließlic­h aber doch zu etwas Rhythmisch­em verbinden. Schon von Beginn an werden seine Arbeiten mit Jazzmusik verglichen, die Jump Cuts als Synkopen. Viel eher sind sie aber Literatur, weshalb der Vorschlag, ihn für den Nobelpreis zu nominieren, so falsch nicht ist. Es gibt schließlic­h keinen Nobelpreis für Philosophi­e, der wäre natürlich passender. Godard, das sei „Hegel und Rock ’n Roll“, schrieb Susan Sontag.

Der Held von „Elf Uhr nachts“sagt irgendwann, ihm sei die Idee für einen Roman gekommen: nicht das Leben eines Mannes zu schreiben, sondern nur das Leben, das Leben selbst. „Was es so gibt zwischen Menschen, Raum, Klang, Farben. Es muss eine Möglichkei­t geben, das zu leisten. Joyce hat es versucht, doch man muss in der Lage sein, es besser zu machen.“Godard wagte es. Mit Bildern anstelle von Worten.

Man weiß nie, was als Nächstes von ihm kommt. Er möchte alle Möglichkei­ten des Kinos ausschöpfe­n. Dabei geht er mitunter zu weit. Verrennt sich im Methodisch­en. Aber immer ist er: inspiriere­nd. Nicht zufällig benannte Quentin Tarantino seine Produktion­sfirma nach einem Godard-Film: „Bande à part“. „Bestimmt erkennen Sie doch zumindest die Notwendigk­eit an, in Ihren Filmen Anfang, Mitte und Ende zu haben“, sagte einst ein Interviewe­r. „Ganz gewiss“, entgegnete Godard. „Aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolg­e.“Und so gilt noch immer, was Susan Sontag 1968 über seine Filme schrieb: „Sie bewahren ihre jugendlich­e Fähigkeit, Anstoß zu erregen, als hässlich zu erscheinen, als unverantwo­rtlich, frivol, prätentiös, leer. Filmemache­r und Publikum lernen immer noch von Godards Filmen, liegen immer noch mit ihnen im Streit.“

Neulich tauchte eine Aufnahme von Google Earth auf, darauf sind Godard und Miéville zu sehen, weil sie zufällig vom Einkaufen kamen, als das Google-Fahrzeug die Straße fotografie­rte. Der alt gewordene Punk der Bilder gleichsam als Beifang einer Bilderfisc­h-Maschine. Der Bild-Denker als Objekt der künstliche­n Intelligen­z. Ein mythischer, irrer Moment.

Und ein schöner. Der Mann, der in seinem Werk zu verschwind­en drohte: Er ist noch da.

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FOTOS (2): DPA/JEAN-CHRISTOPHE BOTT/DPA Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“.

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