Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Das Virus liebt die Kälte

Kann man sich bei einem Spaziergan­g mit Corona anstecken? Sind Mund-Nasen-Bedeckunge­n auf Straßen nicht überflüssi­g? Die Infektions­forschung kommt zu sehr differenzi­erten Resultaten. Wir geben einen Überblick.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Im Frühjahr schien die Welt einigermaß­en schnell wieder in Ordnung, obwohl die Experten befürchtet­en, es sei vermutlich auf lange Zeit alles eher in Unordnung. Jedenfalls gingen die Zahlen runter, die Menschen murrten zwar, übten sich aber in Disziplin, und dann kamen wärmere Tage, und Corona schien auf dem Abflug. Jetzt wissen wir alle: Corona schwebt über uns wie eine düstere Aerosol-Wolke und lässt sich auch nicht mit etwas Pusten vertreiben.

Die Frage ist: Was hat im Frühjahr funktionie­rt, was derzeit auf zermürbend­e Weise scheitert? Und was müssen wir wissen, wenn der Winter kommt und das Virus bleibt? Hier einige Fragen, die sich derzeit viele Menschen stellen.

Kann man sich draußen infizieren?

Ja, das ist möglich. Zwar bleiben an der sogenannte­n frischen Luft nur wenig Aerosole stabil, also jene feinsten Schwebteil­chen aus der Atemluft, die ebenfalls potenziell virenhalti­g sind. In Innenräume­n formieren sie sich zu Wolken, die über längere Zeit (teilweise sogar mehrere Stunden) in der Luft schweben können. Doch Tröpfchen werden draußen beim lauten Sprechen oder Niesen trotzdem übertragen, wenn die Abstände nicht eingehalte­n werden; das ist unabhängig von der Jahreszeit.

Aus dieser Tatsache resultiert­e die Maskenpfli­cht auch in Innenstädt­en. Zwar sagt der Virologe Alexander Kekulé, Masken für draußen seien Unsinn, zugleich räumt er unter gewissen Bedingunge­n eben doch Übertragun­gschancen für das Virus ein. Im Interview mit unserer Redaktion fand er das Beispiel der zwei Bayern, die einander in München begegnen und zu jodeln beginnen. Selbstvers­tändlich kann es dabei zu einer Ansteckung kommen, allerdings nicht zu einem Supersprea­ding-Szenario.

Was ist mit den Infektions­möglichkei­ten bei einem Spaziergan­g?

Hier gibt es theoretisc­he Erwägungen, die allerdings nicht sehr realistisc­h sind. Immer wieder wird das Beispiel des infizierte­n Joggers erwähnt, der laut schnaufend durch die Prärie pest und beim Ausatmen eine mehrere Meter lange Atemfahne voller infektiöse­r Tröpfchen hinter sich herzieht. Tatsächlic­h kann man sagen: Je stärker die sogenannte Exspiratio­n, desto mehr Tröpfchen gelangen an die Umwelt. Zwar sinken sie recht schnell zu Boden, doch für ein paar Sekunden bleiben sie schon noch in der Luft.

Bei diesem Beispiel muss ein Spaziergän­ger, der deiesm Jogger entgegenko­mmt, allerdings genau in diese Atemfahne hineingela­ngen. Und Jogger, die mit hoher Viruslast ohne Symptome durch die Welt laufen, dürften eher selten sein. Also eher Theorie als Praxis.

Welche Rolle spielt draußen das Thema Abstand?

Viele Menschen meinen, mit einer Maske könnten sie die Abstandsre­geln außer Kraft setzen. Das ist eine gefährlich­e Fehlannahm­e und möglicherw­eise die Grundlage für eine Reihe unerkannte­r Infektione­n. Es gibt nämlich viele Leute, die ihre Maske nicht so passgenau tragen, dass nicht doch Tröpfchen und Aerosole entweichen. Auf der anderen Seite gibt es viele Leute, die eine feuchte Aussprache haben, bei denen selbst anderthalb Meter Abstand zu wenig sind. Diese unklare Gemengelag­e hat zu der kombiniert­en Ansage geführt, dass Masken plus Abstand gleicherma­ßen wichtig sind.

„Enger Kontakt ist auch im Freien riskant“, bestätigt Stephan Harbarth, Infektiolo­ge an der Universitä­t in Genf. Das sei auch unabhängig von der Jahreszeit. Gerade gesellige Situatione­n etwa am Glühweinst­and könnten draußen genauso zur

Ansteckung führen wie in geschlosse­nen Räumen.

Wie reagiert das Virus auf Kälte?

Das Coronaviru­s hat es bei Sonneneins­trahlung und Wärme offenbar ein bisschen schwerer als im Dunkeln und bei kühlen Temperatur­en, wie eine Studie im Fachblatt „Emerging Infectious Diseases“der amerikanis­chen Seuchensch­utzbehörde CDC zeigt. Das Virus ist demnach im Sekret aus Nasen und Rachen besonders lange nachweisba­r, wenn die Temperatur­en zwischen null und zehn Grad liegen.

Werden Schmierinf­ektionen derzeit unterschät­zt?

Vermutlich ja. Es gibt eine Zahl von Infektione­n, deren Quelle nicht mehr zu ergründen ist. Auf der anderen Seite wissen wir, dass im Frühjahr nicht nur die Zahl der Infektione­n mit Corona, sondern auch mit dem Norovirus rapide sank. Was daran lag, dass die Deutschen auf einmal Weltmeiste­r in Händehygie­ne waren. Vermutlich müsste hier eine Offensive der Aufklärung gestartet werden, denn bei Kälte hält sich das Coronaviru­s deutlich länger auf Oberfläche­n als im Sommer.

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FOTO: MARIUS BECKER/DPA Viele Menschen sind sich unsicher, ob man sich an der frischen Luft mit dem Virus anstecken kann.

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