Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
An dieser Schule ist alles bunt
Die Kinder und Jugendlichen werden in der Hilda-Heinemann-Schule individuell gefördert. Ein Besuch in der Klasse OA.
Anna Katzmarczyk fährt mit dem sprechenden Tip-Toi-Stift über die Zootiere. „Da sind die Zebras!“, sagt die Inklusionsassistentin und drückt mit dem Stift darauf, während Lisa gespannt zuhört. Die 15-Jährige ist blind und kann nicht sprechen, verfolgt die Geschichte über Zebra, Pinguine & Co. aber ganz gespannt. Und zwar in ihrer eigenen Ecke. „LISA-ECKE“prangt auf einer Wimpel-Girlande über ihrem Platz. Hier gibt es genügend Raum für einen Sitzsack, in den sich die Schülerin auch mal einsinken lassen kann, während sie Bibi Blocksberg aus der Tonie-Box hört. Ihre Lieblingsgeschichte.
„Frau Streich, Lisa hat sich jetzt so konzentriert, darf sie sich etwas aussuchen?“, fragt die Inklusionsassistentin die Sonderschullehrerin Monique Streich. „Natürlich“, antwortet diese und berührt Lisa liebevoll am Arm, damit sie weiß, dass sie
„Schule ist ein Platz, an dem man sich wohlfühlen soll. Denn wer sich wohlfühlt, lernt besser.“
Matthias Wiese Klassenlehrer der OA
da ist. „Wie wäre es mit einem Knisterbad?“Katzmarczyk schüttet also die prickelnden Perlen ins Wasser – und Lisa darf jetzt auf Tuchfühlung gehen. Das kitzelt an den Fingern. Lisa findet es toll. Auch ihre Betreuerin hat Spaß.
In der Hilda-Heinemann-Schule läuft der Schulunterricht anders, als man es von Gymnasium oder Realschule kennt. Die Förderschule geistige Entwicklung hat eigene, schulformbezogene Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen. Diese lassen aber viele Handlungsspielräume, und die Schulen schreiben Lehrpläne bezogen auf die Unterrichtsfächer.
„Vergessen Sie alles, was Sie über Regelunterricht wissen. Wenn wir eine Unterrichtsstunde haben, haben wir von der Intensität her zehn“, sagt Klassenlehrer Matthias Wiese, der aber nur ungern so genannt wird. „Wir sind hier ein Team.“Das besteht aus drei Lehrerinnen und Lehrern, zwei Inklusionsassistentinnen und einer Krankenschwester. Sie kümmern sich um die elf Schüler der Klasse OA. Das O steht für Oberstufe.
Drei der Schüler haben eine Begleitung an ihrer Seite, die elfjährige Yaren hat sogar eine Krankenschwester. Denn das schwer mehrfachbehinderte Mädchen hat ein Krankheitsbild, das zu bedrohlichen Zuständen führen könnte. Yaren sitzt im Rolli, muss beatmet werden und kann ihren Computer nur per Augensteuerung bedienen. Aber sie nimmt am Klassengeschehen teil und ist damit ein genauso wichtiger Teil der Gemeinschaft wie alle anderen Schüler. Über die neue Rollstuhlschaukel auf dem Schulhof freut sie sich besonders. „Wir haben Schüler, die eine klassische geistige Behinderung haben, aber auch andere, die vom Intellekt her an der Grenze zur Lernbehinderung sind“, erklärt Wiese. Über Bruchrechnen geht es meist nicht hinaus.
Egal, in welchem Bereich der jeweilige Jugendliche eingeschränkt ist – die Pädagogen finden für jeden den richtigen Weg. Und der sieht kleine Schritte vor. „Wir machen nur so kleine Wege, die die Schüler auch laufen können“, beschreibt Wiese, der zusätzlich Körperbehindertenund Gehörlosenpädagogik studiert hat.
Neben den kleinen Schneemännern aus Holz hilft Monique Streich derweil dem 16-jährigen Enes beim Rechnen. Ein Zahlenrahmen mit bunten Kugeln kommt zum Einsatz. Enes schiebt die blauen Kugeln nach links, kommt aber nicht auf die Zahl. Die Lehrerin gibt einen
Tipp. „Den Rest schaffst du allein“, sagt sie aufmunternd und ihr Blick schweift wieder durch die Klasse.
„Brauchst du mich?“, ruft sie der 14-jährigen Yasmin zu. Sie nickt. Denn Yasmin spricht nicht. Stattdessen schreibt sie etwas auf ihre Kommunikationstafel: „Ich freue mich, euch alle jeden Tag zu sehen.“Das berührt die Sonderschullehrerin. „Wir freuen uns auch, dich zu sehen“, sagt sie. Trotz Atemmaske sieht man das Lächeln. Sofort geht sie weiter zu Nina (16). In der OA ist es nie mucksmäuschenstill, es herrscht immer Bewegung. Der Lehrer
steht nicht vor der Tafel, sondern sitzt neben dem Schüler.
Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist hier sehr eng, freundschaftlich. „Unsere Schüler sind ganz anders auf uns angewiesen“, erklärt Wiese. „Und sie sind immer lieb. Unsere Schüler sind einfach hervorragend“, ergänzt Lehrerin Gaby Krüger, die Yaren gerade eine ausgedehnte Handmassage verpasst. Zuvor haben die beiden eine „Schaumparty“gefeiert: Yaren und Krüger ließen gemeinsam Schaum in den Händen zergehen. „Da sie selbst nicht kann, bringen wir die Umwelt halt zu ihr“, bringt es Krüger auf den Punkt. In Corona-Zeiten ist die Klasse noch einmal mehr zusammengewachsen. Denn jede Klasse, so auch die OA, hat ihre eigene Ankunft-, Abreiseund Pausenzeit, damit sich keine Klassen mischen. Sie bleiben immer nur in dieser Gruppe zusammen und essen auch gemeinsam – in der Klasse.
Selbst, wenn einer der Lehrer ausfiele, liefe der Unterricht mit dem restlichen Team weiter. Alle Schüler tragen Maske, nur die nicht, die es nicht können oder befreit sind. Bei Yaren zum Beispiel geht das natürlich nicht. Gerade für eine Förderschule ist diese Kohortenbildung wichtig. Der Komplettlockdown im Frühjahr war eine Katastrophe für die Hilda-Heinemann-Schule.
Dennoch ließen sich Schulleiter Christian Jansen und sein Team kreative Wege einfallen, um die Schüler daheim zu fördern. So hat Katharina (16) beispielsweise ein Laptop von der Schule bekommen. Schüler wie Jan (15) nutzen die App „Anton“, um zu Hause via Tablet oder Smartphone Aufgaben zu lösen. Der Clou: Lehrer Matthias Wiese kann sich aufschalten und sehen, in welchem Bereich Jan Schwierigkeiten hat. Doch diese Ausstattung kostet. Geld, das der Förderverein wegen ausgefallener Feste in Corona-Zeiten nicht hat.
Das Treffen im Klassenraum ist wichtig für die Schüler, für die ein geregelter Tagesablauf ein Stück Sicherheit bedeutet. „Wir sind freundlich in der Pause“steht an der Wand neben den Gebärdensprachen-Plakaten. Der Stundenplan ist mit Symbolen und Gebärden versehen, so wie vieles in der Schule. Die Schüler beherrschen die Gebärdensprache übrigens alle. Auf den Schubladen kleben Aufkleber mit den Namen der Schüler sowie „Stempel“oder „Malkittel“, im Regal nebenan stapeln sich Spiele über Spiele.
Natürlich gibt es auch einen Adventskalender, den die Lehrer gebastelt haben. „Trotz Pandemie versuchen wir es uns so schön wie möglich zu machen“, betont Monique Streich. Sie hat zuletzt in mühsamer Kleinarbeit Lernmaterial gebastelt, das auch Autisten nutzen können.
An der Tafel steht, was diese Woche angesagt ist: Kathi (16) hat „Ich-Woche“, sprich, sie darf Lisa mit ihrem Rollstuhl auf den Pausenhof schieben. Das Gebärdenwort der Woche ist Advent. Passend dazu hat die OA einen beleuchteten Kranz und einen Baum.
In dieser Schule ist alles anders, aber auch alles bunt. Matthias Wiese bringt es auf den Punkt: „Schule ist ein Platz, an dem man sich wohlfühlen soll. Denn wer sich wohlfühlt, lernt besser.“