Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Sorge vor dem „Corona-Abitur“
Der Ruf nach verkürzten Lehrplänen wird lauter. Dabei sei die Situation gar nicht so dramatisch, sagen die Leiter der Gymnasien.
Der Ruf nach verkürzten Lehrplänen wird lauter. Dabei sei die Situation gar nicht so dramatisch, sagen die Leiter der Remscheider Gymnasien.
Thomas Giebisch vom Leibniz-Gymnasium bringt die Ängste vieler Eltern auf den Punkt: „Kann mein Kind trotz Corona Abitur?“Wenn der langjährige Schulleiter den letzten Abi-Jahrgang betrachtet, der nach dem Lockdown im März auf die Abschlussprüfungen zusteuerte, fällt die Antwort eindeutig aus: „Ja, das geht.“
Zumindest an seiner Schule in Lüttringhausen: „Wir hatten unter den Abiturienten im letzten Sommer über 30 Absolventen mit einem Einser-Abi und damit so viele wie noch nie innerhalb eines Jahrgangs.“Problematischer könnte es beim nächsten Jahrgang werden: „Das sind die Schüler, die nun in der Qualifikationsphase 2 sind. Anders als ihre Vorgänger, die zum Zeitpunkt des kompletten schulischen Lockdowns im März den Stoff der Oberstufe praktisch schon durch hatten, haben die jetzigen Q2-Schüler in der wichtigsten Phase der gymnasialen Laufbahn auch tatsächlich Lerninhalte versäumt oder nur im Digital-Unterricht durchgenommen.“
Natürlich spüre man da eine gewisse Corona-Lücke. Dem Ruf nach verkürzten Lehrplänen steht Giebisch dennoch kritisch gegenüber: „Bei der Umstellung von G9 auf G8 wurden die Lehrpläne bereits entschlackt. Wie viel wollen wir denn noch streichen?“Es gehe immerhin auch um verlorene Bildungschancen: „Noch mehr Bildung von oben herab zu kürzen kann hier nicht die Lösung sein.“Besser wäre es, jene Instrumente zu nutzen, die das Schulministerium den Pädagogen in Reaktion auf die Pandemie bereits an die Hand gegeben hat. Giebisch fasst sie unter dem Motto „Mut zur Lücke“zusammen: „Keiner weiß besser als die Fachlehrer, welchen Stoff oder welche Themen sie auslassen können, wenn es nicht geht, alles aufzuarbeiten oder nachzuholen.“Indem die Bildungspolitiker inzwischen die Auswahlmöglichkeiten an Abiturthemen erhöht hätten und jetzt im Fach Deutsch zum Beispiel vier statt nur drei Themen zur Auswahl erlaubten, „kann eine Lehrkraft individuell angepasst entscheiden, was verzichtbar ist“.
Im Fach Englisch würden dann in einem Kurs vielleicht die British Novels herausfallen. Das sei aber nicht weiter schlimm, weil es bei der Vorbereitung auf das Abitur noch nie darum gegangen sei, alle denkbaren Lehrinhalte durchzupeitschen: „Beim Abitur geht es darum, die allgemeine Befähigung zum Studium festzustellen.“
Das sieht Thomas Benkert als kommissarischer Schulleiter vom Röntgen-Gymnasium genauso und ergänzt, „dass es tatsächlich nichts bringt, während eines laufenden Lernprozesses auf höherer Instanz zu entscheiden, was in der Qualifikationsphase
vermeintlich unwichtig ist.“Wenn dabei etwas gestrichen würde, was manche Schüler gerade eben durchgenommen haben, sei keinem geholfen. Im Übrigen habe er mit
Blick auf die Notendurchschnitte der ersten Klausuren des Schuljahres gar nicht den Eindruck, „dass die Schüler insgesamt signifikant schlechter geworden sind“. Natürlich hätten manche Schüler aktuell mehr zu kämpfen. „Das betrifft aber vor allem diejenigen, die im Lockdown die Stromrechnung ihrer Eltern beim Gamen hochgetrieben haben, anstatt daheim zu lernen und am Fernunterricht teilzunehmen.“Vieler dieser Schüler hätten allerdings schon vor Corona wenig Lerndisziplin gehabt.
Eine Beobachtung, die Stephan Döring vom Gertrud-Bäumer-Gymnasium bestätigen kann, wobei er betont, dass auch für die schwachen Schüler eine Lösung bereitstand: „Weil im letzten Schuljahr niemand sitzen bleiben durfte und auch keine angeordneten Schulformwechsel erlaubt waren, haben wir die Option genutzt, graue Briefe anstelle der eigentlich fälligen blauen Briefe zu verschicken.“Damit erhielten die betroffenen Schüler die Empfehlung, freiwillig eine Klasse oder einen Jahrgang zu wiederholen. „Leider lehnten das die meisten Eltern aber ab und dachten, man könne es ja mal probieren.“
Mit spürbar negativen Folgen: „Es hecheln jetzt deutlich mehr Schüler als üblich dem gymnasialen Stoff hinterher, ohne jegliche Aussicht, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.“Wo es Neuntklässler betreffe, die eigentlich besser die achte Klasse wiederholt hätten, habe er sich in einzelnen Fällen rege bemüht, einen Wechsel zum Beispiel auf die Realschule zu arrangieren. „Das scheiterte aber an vollen Klassen.“Fatal werde die Situation der ohnehin schon Lernschwachen vor allem dann, „wenn obendrein Quarantänen
hinzukommen oder vielleicht sogar ein neuer Lockdown ohne Präsenzunterricht“. Denn natürlich entstünden beim Online-Unterricht eher mal Wissenslücken als beim Präsenzunterricht.
Darauf weist auch Schulleiter Rainer Schulz vom Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium hin, der bei den Debatten um Lerndefizite die Differenzierung vermisst: „Es gibt weiter Schulen und Schüler, die von Corona im jetzigen Schuljahr so gut wie gar nicht oder überhaupt nicht betroffen waren. Da fehlt dann zwar auch der Präsenzunterricht vom vorherigen Schuljahr, aber sonst nichts.“Und den Präsenzunterricht habe man „im Großen und Ganzen relativ gut digital kompensieren können“.
„Beim Abitur geht es darum, die allgemeine
Befähigung zum Studium festzustellen“
Thomas Giebisch Leiter des Leibniz-Gymnasiums