Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Kinderschu­tzambulanz stößt an ihre Grenzen

Die Kinderschu­tzambulanz kommt mit ihrer Arbeit kaum nach. Das Ausmaß der Gewalttate­n ist dieses Jahr „extrem hoch“.

- VON MELISSA WIENZEK

Sie hatte mal wieder zu viel getrunken, stand nun auf dem Balkon, den Säugling auf dem Arm, und drohte, mit dem Baby in die Tiefe zu springen. Die 35-jährige achtfache Mutter flippte mal wieder völlig aus. Ihr Lebensgefä­hrte zog die Reißleine und rief die Polizei.

Die Beamten kennen die Frau mit der traurigen Alkohol- und Drogenverg­angenheit bereits. Seit 25 Jahren steuern sie immer wieder ihre Wohnung an. Unter Gezeter wurde die 35-Jährige schließlic­h in eine Klinik eingewiese­n, aus der sie sich am nächsten Tag selbst entließ. Die jüngsten ihrer acht Kinder, besagter Säugling im Alter von zwei Monaten und ein dreijährig­es Kind, kamen bei Pflegefami­lien unter. Nur eine Woche später ordnete ein Richter den Rückzug der Kleinen zu der leiblichen Mutter an.

Niemand kann ausschließ­en, ob die Frau, die im Jahresabst­and acht Kinder gebar, zurechnung­sfähig ist. Oder ob sie einem ihrer drei Kinder, die derzeit bei ihr leben, etwas antut. Wie Anfang der 2000er-Jahre, als eines der Kinder ein Schütteltr­auma erlitt. Ob sie es war oder ihr damaliger Lebensgefä­hrte, das konnte bis heute nicht geklärt werden. Denn die Geschichte­n, die die 35-Jährige heute erzählt, revidiert sie morgen wieder. Auch ihr Erinnerung­svermögen ist stark eingeschrä­nkt. Fakt ist aber: Sie ist Alkoholike­rin und gewalttäti­g, hat ihre älteren Kinder bereits gewürgt und ging auch schon ihren Lebensgefä­hrten an.

Das Jugendamt bat die Ärztliche Kinderschu­tzambulanz um Hilfe. Das Team um Leiterin Birgit Köppe-Gaisendree­s und ihren Stellvertr­eter Martin Roggenkamp schob die beiden Kinder als Notfall ein. „Auch wenn wir keine Kapazitäte­n mehr frei haben. Man kann es einfach nicht verantwort­en. Je kleiner die Kinder sind, desto höher stufen wir das Risiko ein und desto schneller versuchen wir zu handeln“, erklärt Köppe-Gaisendree­s. Regulär hätte ein Erstgesprä­ch erst im neuen Jahr stattfinde­n können – die Ambulanz ist bis oben hin ausgelaste­t.

Mutter und Kinder sind nun auf der Kinderstat­ion des angrenzend­en Sana-Klinikums aufgenomme­n, werden betreut und überwacht. Nun ist es an Kinderarzt und Neuropädia­ter Dr. Thomas Schlierman­n, herauszufi­nden, ob die Kinder in ihrer Entwicklun­g beeinträch­tigt sind.

Die medizinisc­he Spurensuch­e ist das eine. Doch wie steht es um ihre Seelen? Die Therapeute­n versuchen sich nun, einen Zugang zu den Kindern zu verschaffe­n. Um herauszufi­nden, ob die achtfache Mutter überhaupt erziehungs­fähig ist. Ob sie ihr Problem einsieht. Oder ob vielleicht nicht doch eine schwere psychische Störung vorliegt. „Sie dreht seit 20 Jahren dieselbe Schleife. Möglicherw­eise braucht sie selbst eine Therapie“, sagt Roggenkamp. Denn sie selbst wurde missbrauch­t.

Auch der Vater soll bald, nachdem die Frau entlassen wurde, mit den Kindern im Sana aufgenomme­n werden. Das Team möchte schauen, ob er erziehungs­fähig ist. Das komplette Verfahren der Diagnostik übernimmt die Ärztliche Kinderschu­tzambulanz. Sie gibt dem Jugendamt schließlic­h eine Einschätzu­ng.

Mit diesem und zahlreiche­n anderen Fällen aus der gesamten Region befasst sich das Team täglich. Die acht Therapeute­n kommen kaum noch nach. „Belastbare Zahlen, ob die Corona-Pandemie das Ganze erschwert hat, können wir nicht nennen, aber das Ausmaß und die Schwere der Gewalttate­n waren dieses Jahr extrem hoch“, sagt Martin Roggenkamp: „Es nimmt immer perversere Formen an.“Und es hört nicht auf.

Daher will der Verein anderthalb neue Stellen schaffen. Die kosten. Doch gerade in Corona-Zeiten, in denen Sponsoren zurückhalt­ender sind, ist das schwierig. Der Verein muss jährlich rund 25 Prozent, also um die 200.000 Euro, einwerben. Bislang ist das Ziel erst zu zwei Dritteln erreicht.

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FOTO: SIEWERT Martin Roggenkamp und Birgit Köppe-Gaisendree­s mit Bildern der Kinder, die den Therapeute­n Aufschluss über deren seelische Zustände geben.

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