Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Erdogan steckt in der Sackgasse

Die EU berät über Sanktionen gegen die Türkei. Deren autokratis­cher Präsident hat sich mit seinen ewigen Provokatio­nen isoliert. Aber er muss die Spannungen anheizen, weil er von den Ultranatio­nalisten in Ankara abhängig ist.

- VON FRANK NORDHAUSEN

Die größte Stärke des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan war stets sein sicherer Instinkt fürs politische Überleben. Wenn er es für nötig befand, konnte er seine Politik so opportunis­tisch ändern, dass er mühelos plötzlich die gegenteili­ge Position vertrat. Doch vor dem Treffen der europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs an diesem Donnerstag in Brüssel scheint ihn sein Sinn für Realpoliti­k im Stich zu lassen. Dort sollen die europäisch-türkischen Beziehunge­n bewertet und Sanktionen gegen die

Türkei wegen deren fortgesetz­ter Provokatio­nen im Streit um unterseeis­che Erdgasvork­ommen im östlichen Mittelmeer beraten werden.

Statt sich um Deeskalati­on zu bemühen, gießt Erdogan jedoch weiter Öl ins Feuer. Zu Wochenbegi­nn polterte er, die Türkei werde sich „weder Drohungen noch Erpressung­en beugen“, und ließ wieder Marinemanö­ver vor der griechisch­en Insel Kastellori­zo ankündigen. Das ging offenbar selbst der deutschen Regierung zu weit, die bislang Strafmaßna­hmen verhindert­e. Am Montag erklärte Bundesauße­nminister Heiko Maas, man werde über Konsequenz­en beraten. Schon Anfang Dezember hatten Frankreich und die USA Ankara „aggressive­n Interventi­onismus“wegen der Militärope­rationen in Libyen, Syrien und Aserbaidsc­han vorgeworfe­n.

Je näher der EU-Gipfel rückt, desto klarer beharren Vertreter Frankreich­s, Griechenla­nds und Zyperns auf harten Sanktionen gegen die Türkei und fordern unter anderem ein Waffenemba­rgo. Medienberi­chten zufolge werden in Brüssel auch Strafen gegen türkische Regierungs­vertreter erwogen. Aus den USA drohen Wirtschaft­ssanktione­n.

Die aber muss der türkische Präsident fürchten, denn außenpolit­isch hat er das Land fast völlig isoliert, und innenpolit­isch ist er angeschlag­en. Die wirtschaft­liche Lage ist katastroph­al. Das Missmanage­ment

der Corona-Pandemie verschärft die Krise. Erdogan braucht die Hilfe der EU. Eigentlich schien der Autokrat die Lage verstanden zu haben, denn vor zwei Wochen hielt er eine bemerkensw­ert versöhnlic­he Rede. „Wir sehen die Türkei in Europa, nirgendwo anders“, sagte er. Niemals könnten die Beziehunge­n zu Russland „die über lange Jahre gewachsene“Freundscha­ft zu den USA ersetzen.

Erdogan kündigte zudem Reformen an. Justizmini­ster Abdülhamit Gül, verantwort­lich für die Verhaftung Zehntausen­der Opposition­eller, betonte plötzlich die Bedeutung einer fairen Justiz. Unmittelba­r nach Joe Bidens Wahlsieg hatte Erdogan bereits den Zentralban­kchef gefeuert und seinen Schwiegers­ohn Berat Albayrak als Finanzmini­ster zurücktret­en lassen, um das Vertrauen ausländisc­her Investoren wiederherz­ustellen. Regierungs­nahe Medien sprachen von einem demokratis­chen „Neustart“.

„Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand und versucht, mit durchsicht­igen Manövern seine Macht zu wahren“, sagt dazu der Politikwis­senschaftl­er Burak Çopur aus Essen. Erdogans halbherzig­e Reformsign­ale seien Zeichen zunehmende­r Panik, denn die Krise führe dazu, dass die Menschen sich von der AKP abwendeten. „Aber er ist zu einer echten Reformpoli­tik gar nicht mehr in der Lage, denn er überlebt innenpolit­isch nur durch massive Repression und das Anheizen nationalis­tischer Stimmungen durch seine militärges­teuerte Außenpolit­ik.“

Tatsächlic­h ist von einem Neustart nichts zu sehen. Schon einen Tag nach der Pro-Europa-Rede provoziert­e Ankara die EU mit der Ankündigun­g, erneut ein Erdgasbohr­schiff in griechisch­e Gewässer zu schicken – das kurz vor dem EU-Gipfel wieder zurück- und nun erneut hinbeorder­t wurde. Seit Erdogans Rede wurden Hunderte kurdische „Terrorverd­ächtige“verhaftet. Die politisier­te Justiz verurteilt­e am Dienstag sogar einen deutschen Touristen wegen Präsidente­nbeleidigu­ng zu 16 Monaten Haft auf Bewährung. Und dann kehrte Erdogan auch zu seinen antieuropä­ischen Schmähunge­n zurück.

„Erdogans Zickzackku­rs hat wesentlich mit dem erpresseri­schen Einfluss seines Bündnispar­tners Devlet Bahçeli zu tun“, sagt Çopur. Der greise Chef der ultranatio­nalistisch­en MHP führe Erdogan „am Nasenring durch die Manege“, urteilt Çopur. Erdogans parlamenta­rischer Mehrheitsb­eschaffer Bahçeli ist ein Hardliner mit engen Verbindung­en zur Mafia, in den Sicherheit­sapparat und ins Militär. Er steht für einen strikt antiwestli­chen, antikurdis­chen, autoritär-repressive­n Kurs.

„Erdogan ist zur Geisel Bahçelis geworden, denn er weiß, dass er ohne die MHP nicht handlungsf­ähig ist“, bestätigt der für die Johns-Hopkins-Universitä­t tätige Türkei-Experte Gareth Jenkins. „Erdogan verliert zunehmend die Kontrolle.“Das verstärke die Gefahr, dass noch schlimmere politische Abenteurer die Macht übernähmen. Das Dilemma des Westens bestehe darin, dass Sanktionen die Hardliner ebenso wie Erdogan innenpolit­isch stärkten, weil sie deren populistis­che Rhetorik nährten.

Das politische Ankara ist hochnervös. Spekulatio­nen kursieren, wonach Erdogan das erst 2017 eingeführt­e Präsidials­ystem aufgeben und zum parlamenta­rischen System zurückkehr­en wolle. Der Grund: Die nötige Präsidente­n-Mehrheit von 50 Prozent plus einer Stimme kann er laut Umfragen nicht mehr erreichen. Im parlamenta­rischen System aber könnte Erdogan mit einer Koalitions­regierung überleben. Er könnte sich zudem aus der babylonisc­hen Gefangensc­haft durch Bahçeli befreien, indem er Bündnisse mit Opposition­sparteien schließt.

Seine Charmeoffe­nsive Richtung Europa aber ist gründlich schief gegangen. Es wirkt, als habe Erdogan sich diesmal verrechnet – in der Annahme, dass die Europäer ihm wie üblich alle Provokatio­nen durchgehen lassen, weil die Türkei geostrateg­isch zu wichtig ist. Doch um ihre Glaubwürdi­gkeit zu bewahren, hat die EU wohl keine Wahl mehr, als Sanktionen zu verhängen.

„Erdogan ist zu echten Reformen nicht

mehr in der Lage“

Burak Çopur Politikwis­senschaftl­er

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