Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Erdogan steckt in der Sackgasse
Die EU berät über Sanktionen gegen die Türkei. Deren autokratischer Präsident hat sich mit seinen ewigen Provokationen isoliert. Aber er muss die Spannungen anheizen, weil er von den Ultranationalisten in Ankara abhängig ist.
Die größte Stärke des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan war stets sein sicherer Instinkt fürs politische Überleben. Wenn er es für nötig befand, konnte er seine Politik so opportunistisch ändern, dass er mühelos plötzlich die gegenteilige Position vertrat. Doch vor dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag in Brüssel scheint ihn sein Sinn für Realpolitik im Stich zu lassen. Dort sollen die europäisch-türkischen Beziehungen bewertet und Sanktionen gegen die
Türkei wegen deren fortgesetzter Provokationen im Streit um unterseeische Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer beraten werden.
Statt sich um Deeskalation zu bemühen, gießt Erdogan jedoch weiter Öl ins Feuer. Zu Wochenbeginn polterte er, die Türkei werde sich „weder Drohungen noch Erpressungen beugen“, und ließ wieder Marinemanöver vor der griechischen Insel Kastellorizo ankündigen. Das ging offenbar selbst der deutschen Regierung zu weit, die bislang Strafmaßnahmen verhinderte. Am Montag erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas, man werde über Konsequenzen beraten. Schon Anfang Dezember hatten Frankreich und die USA Ankara „aggressiven Interventionismus“wegen der Militäroperationen in Libyen, Syrien und Aserbaidschan vorgeworfen.
Je näher der EU-Gipfel rückt, desto klarer beharren Vertreter Frankreichs, Griechenlands und Zyperns auf harten Sanktionen gegen die Türkei und fordern unter anderem ein Waffenembargo. Medienberichten zufolge werden in Brüssel auch Strafen gegen türkische Regierungsvertreter erwogen. Aus den USA drohen Wirtschaftssanktionen.
Die aber muss der türkische Präsident fürchten, denn außenpolitisch hat er das Land fast völlig isoliert, und innenpolitisch ist er angeschlagen. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. Das Missmanagement
der Corona-Pandemie verschärft die Krise. Erdogan braucht die Hilfe der EU. Eigentlich schien der Autokrat die Lage verstanden zu haben, denn vor zwei Wochen hielt er eine bemerkenswert versöhnliche Rede. „Wir sehen die Türkei in Europa, nirgendwo anders“, sagte er. Niemals könnten die Beziehungen zu Russland „die über lange Jahre gewachsene“Freundschaft zu den USA ersetzen.
Erdogan kündigte zudem Reformen an. Justizminister Abdülhamit Gül, verantwortlich für die Verhaftung Zehntausender Oppositioneller, betonte plötzlich die Bedeutung einer fairen Justiz. Unmittelbar nach Joe Bidens Wahlsieg hatte Erdogan bereits den Zentralbankchef gefeuert und seinen Schwiegersohn Berat Albayrak als Finanzminister zurücktreten lassen, um das Vertrauen ausländischer Investoren wiederherzustellen. Regierungsnahe Medien sprachen von einem demokratischen „Neustart“.
„Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand und versucht, mit durchsichtigen Manövern seine Macht zu wahren“, sagt dazu der Politikwissenschaftler Burak Çopur aus Essen. Erdogans halbherzige Reformsignale seien Zeichen zunehmender Panik, denn die Krise führe dazu, dass die Menschen sich von der AKP abwendeten. „Aber er ist zu einer echten Reformpolitik gar nicht mehr in der Lage, denn er überlebt innenpolitisch nur durch massive Repression und das Anheizen nationalistischer Stimmungen durch seine militärgesteuerte Außenpolitik.“
Tatsächlich ist von einem Neustart nichts zu sehen. Schon einen Tag nach der Pro-Europa-Rede provozierte Ankara die EU mit der Ankündigung, erneut ein Erdgasbohrschiff in griechische Gewässer zu schicken – das kurz vor dem EU-Gipfel wieder zurück- und nun erneut hinbeordert wurde. Seit Erdogans Rede wurden Hunderte kurdische „Terrorverdächtige“verhaftet. Die politisierte Justiz verurteilte am Dienstag sogar einen deutschen Touristen wegen Präsidentenbeleidigung zu 16 Monaten Haft auf Bewährung. Und dann kehrte Erdogan auch zu seinen antieuropäischen Schmähungen zurück.
„Erdogans Zickzackkurs hat wesentlich mit dem erpresserischen Einfluss seines Bündnispartners Devlet Bahçeli zu tun“, sagt Çopur. Der greise Chef der ultranationalistischen MHP führe Erdogan „am Nasenring durch die Manege“, urteilt Çopur. Erdogans parlamentarischer Mehrheitsbeschaffer Bahçeli ist ein Hardliner mit engen Verbindungen zur Mafia, in den Sicherheitsapparat und ins Militär. Er steht für einen strikt antiwestlichen, antikurdischen, autoritär-repressiven Kurs.
„Erdogan ist zur Geisel Bahçelis geworden, denn er weiß, dass er ohne die MHP nicht handlungsfähig ist“, bestätigt der für die Johns-Hopkins-Universität tätige Türkei-Experte Gareth Jenkins. „Erdogan verliert zunehmend die Kontrolle.“Das verstärke die Gefahr, dass noch schlimmere politische Abenteurer die Macht übernähmen. Das Dilemma des Westens bestehe darin, dass Sanktionen die Hardliner ebenso wie Erdogan innenpolitisch stärkten, weil sie deren populistische Rhetorik nährten.
Das politische Ankara ist hochnervös. Spekulationen kursieren, wonach Erdogan das erst 2017 eingeführte Präsidialsystem aufgeben und zum parlamentarischen System zurückkehren wolle. Der Grund: Die nötige Präsidenten-Mehrheit von 50 Prozent plus einer Stimme kann er laut Umfragen nicht mehr erreichen. Im parlamentarischen System aber könnte Erdogan mit einer Koalitionsregierung überleben. Er könnte sich zudem aus der babylonischen Gefangenschaft durch Bahçeli befreien, indem er Bündnisse mit Oppositionsparteien schließt.
Seine Charmeoffensive Richtung Europa aber ist gründlich schief gegangen. Es wirkt, als habe Erdogan sich diesmal verrechnet – in der Annahme, dass die Europäer ihm wie üblich alle Provokationen durchgehen lassen, weil die Türkei geostrategisch zu wichtig ist. Doch um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, hat die EU wohl keine Wahl mehr, als Sanktionen zu verhängen.
„Erdogan ist zu echten Reformen nicht
mehr in der Lage“
Burak Çopur Politikwissenschaftler