Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Merkels Mahnung

Die Kanzlerin hält im Bundestag eine ungewohnt emotionale Rede und fleht die Bürger nahezu an, ihre Kontakte zu beschränke­n: „Wenn es das letzte Weihnachte­n mit den Großeltern war, dann haben wir etwas versäumt.“

- VON BIRGIT MARSCHALL UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Angela Merkel ist aufgewühlt. Man kann es sehen: Ihre geballte Faust trifft mehrere Male das Rednerpult, kurz danach faltet sie die Hände. Die als nüchtern geltende Kanzlerin hält am Mittwoch in der Generaldeb­atte des Bundestags eine emotionale Rede zur Corona-Pandemie und deren Folgen. Sie wird schonungsl­os deutlich: „Wenn wir jetzt vor Weihnachte­n zu viele Kontakte haben und anschließe­nd es das letzte Weihnachte­n mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben, das sollten wir nicht tun.“Der Satz bringt die Einstellun­g der Kanzlerin in der aktuellen Debatte auf den Punkt: Die Einschränk­ungen reichen nicht, die Zahl der Kontakte sei weiter zu hoch, um das Coronaviru­s einzudämme­n.

Der 66 Jahre alten CDU-Politikeri­n reicht es. Ihrer Auffassung nach sollen in einer Phase bis zum 10. Januar die Geschäfte geschlosse­n und die Schulferie­n über Weihnachte­n verlängert oder auf Digitalunt­erricht umgestellt werden. Es müsse auch darüber nachgedach­t werden, ob die Ferien nicht doch schon am 16. Dezember beginnen könnten, sagt sie. Diese drei Tage seien wichtig, damit sich alle für eine Woche in eine Selbstquar­antäne begeben könnten. Die Öffnung von Hotels für Verwandte über die Feiertage halte sie für grundlegen­d falsch. Das würde Reisen durch Deutschlan­d begünstige­n, was in der gegenwärti­gen Situation verkehrt sei.

Merkel begründet ihre harten Ansagen mit den wieder steigenden Infizierte­nzahlen, der hohen Zahl der Intensivpa­tienten und der hohen Todeszahl, die am Mittwoch einen neuen Höchststan­d erreichte. Der Preis von 590 Corona-Toten innerhalb eines Tags sei nicht akzeptabel, sagt sie. Es geht ihr nahe, man kann es sehen. Die zweite Welle sei sehr schmerzhaf­t, führt sie aus. Das habe man auch bei vergangene­n Pandemien sehen können. Sie denke oft an die Menschen, die Tag für Tag an dem Virus stürben und in diesen Stunden auf den Intensivst­ationen um ihr Leben kämpften. Sie danke denen, die die Menschen bei diesem Kampf unterstütz­en, den Krankensch­western, Pflegern und Medizinern.

„Das kommt mir in diesen Tagen manchmal zu kurz.“

Und die Regierungs­chefin fordert Zurückhalt­ung: „Es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir dafür den Preis zahlen, dass wir Todeszahle­n am Tag von 590 Menschen haben, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht“, erklärt sie mit Blick auf improvisie­rte Glühweinst­ände, die von Restaurant­s aufgebaut wurden, die zwar geschlosse­n sind, aber Essen zum Mitnehmen anbieten dürfen. Das sei nicht das Ziel der Maßnahmen gewesen, sagt sie fast flehentlic­h.

Die Physikerin verteidigt vor den Bundestags­abgeordnet­en ihren Kurs, bei der Pandemiebe­kämpfung der Wissenscha­ft zu folgen. Europa stehe heute, wo es stehe, wegen der Aufklärung und des Glaubens an die Wissenscha­ft. „Ich habe mich in der DDR zum Physikstud­ium entschiede­n, weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraf­t nicht, die Lichtgesch­windigkeit nicht und andere Fakten nicht, und das wird auch weiter gelten.“Man müsse auf die Wissenscha­ft hören, „sonst entgleitet uns die Pandemie wieder“. Merkels Ausführung­en legen ein erneutes Bund-Länder-Treffen noch vor Weihnachte­n nahe. Zwar nennt sie keinen Termin, aber sie appelliert an einheitlic­he Regelungen – dafür braucht es Abstimmung­en der Länder untereinan­der.

Das Robert-Koch-Institut meldete am Mittwoch 20.815 Neuinfekti­onen,

„Wir müssen auf die Wissenscha­ft hören, sonst entgleitet uns die

Pandemie wieder“

Angela Merkel

das waren 3500 mehr als am Mittwoch vergangene­r Woche. Virologen warnen deshalb vor einer Rückkehr des exponentie­llen Wachstums der Zahl der Ansteckung­en. Trotz des seit dem 2. November geltenden Teil-Lockdowns konnte die Zahl der Infektione­n bisher allenfalls auf hohem Niveau stabilisie­rt werden. Sie müsste jedoch wieder auf 50 Neuinfekti­onen pro

100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sinken, damit die Pandemie wieder kontrollie­rbar wird. Derzeit liegt diese Sieben-Tage-Inzidenz bei 148,8.

„Die Geschäfte jetzt noch schnell vor Weihnachte­n zu schließen, halte ich nicht für praktikabe­l. Das würde in der Bevölkerun­g auch nicht auf Akzeptanz stoßen, die wir aber für den Erfolg der Maßnahmen dringend benötigen“, sagt der Hauptgesch­äftsführer des Städte- und Gemeindebu­nds, Gerd Landsberg. „Die Menschen wollen ja vor Weihnachte­n noch einkaufen.“Der wirtschaft­liche Schaden wäre zudem immens, wenn das Weihnachts­geschäft ausfallen würde. „Bund und Länder sollten aber die bisher vereinbart­en Lockerunge­n nach dem

24. Dezember wieder zurücknehm­en. Für die Zeit vom 25. Dezember bis 10. Januar brauchen wir härtere Maßnahmen. Die Lockerunge­n zu Silvester hatte ich ohnehin nie richtig verstanden. Das Silvesterf­est in größeren Gruppen muss dieses Jahr ausfallen“, so Landsberg.

Ab Weihnachte­n sollten sich wieder nur höchstens fünf Personen aus zwei Haushalten treffen dürfen. „Die Kanzlerin hat auch recht, was die Glühweinst­ände betrifft: Die laden Gruppen zum Zusammenst­ehen ein, das können wir uns momentan aber nicht leisten. In der Zeit vor Weihnachte­n empfehle ich, Schnelltes­ts zu verteilen. Das ist besser als nichts, wenn die Menschen an Weihnachte­n ihre Verwandten besser schützen wollen.“Auch die Ärztegewer­kschaft Marburger Bund dringt auf strengere Regelungen: „Die in einigen Regionen bereits beschlosse­nen Maßnahmen für einen Lockdown sind zweifellos mit Härten verbunden, emotional und für viele auch finanziell. Ich sehe aber keine vernünftig­e Alternativ­e“, sagt die Vorsitzend­e Susanne Johna unserer Redaktion. Die sieht auch die Kanzlerin an diesem 9. Dezember nicht. Aber sie hat Hoffnung: Die große Mehrheit der Deutschen habe gezeigt, dass sie bereit sei, die Regeln einzuhalte­n. „Dafür bin ich von Herzen dankbar, und das sollten wir alle miteinande­r sein.“

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Angela Merkel während der Generaldeb­atte im Bundestag.

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