Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Merkels Mahnung
Die Kanzlerin hält im Bundestag eine ungewohnt emotionale Rede und fleht die Bürger nahezu an, ihre Kontakte zu beschränken: „Wenn es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann haben wir etwas versäumt.“
Angela Merkel ist aufgewühlt. Man kann es sehen: Ihre geballte Faust trifft mehrere Male das Rednerpult, kurz danach faltet sie die Hände. Die als nüchtern geltende Kanzlerin hält am Mittwoch in der Generaldebatte des Bundestags eine emotionale Rede zur Corona-Pandemie und deren Folgen. Sie wird schonungslos deutlich: „Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben, das sollten wir nicht tun.“Der Satz bringt die Einstellung der Kanzlerin in der aktuellen Debatte auf den Punkt: Die Einschränkungen reichen nicht, die Zahl der Kontakte sei weiter zu hoch, um das Coronavirus einzudämmen.
Der 66 Jahre alten CDU-Politikerin reicht es. Ihrer Auffassung nach sollen in einer Phase bis zum 10. Januar die Geschäfte geschlossen und die Schulferien über Weihnachten verlängert oder auf Digitalunterricht umgestellt werden. Es müsse auch darüber nachgedacht werden, ob die Ferien nicht doch schon am 16. Dezember beginnen könnten, sagt sie. Diese drei Tage seien wichtig, damit sich alle für eine Woche in eine Selbstquarantäne begeben könnten. Die Öffnung von Hotels für Verwandte über die Feiertage halte sie für grundlegend falsch. Das würde Reisen durch Deutschland begünstigen, was in der gegenwärtigen Situation verkehrt sei.
Merkel begründet ihre harten Ansagen mit den wieder steigenden Infiziertenzahlen, der hohen Zahl der Intensivpatienten und der hohen Todeszahl, die am Mittwoch einen neuen Höchststand erreichte. Der Preis von 590 Corona-Toten innerhalb eines Tags sei nicht akzeptabel, sagt sie. Es geht ihr nahe, man kann es sehen. Die zweite Welle sei sehr schmerzhaft, führt sie aus. Das habe man auch bei vergangenen Pandemien sehen können. Sie denke oft an die Menschen, die Tag für Tag an dem Virus stürben und in diesen Stunden auf den Intensivstationen um ihr Leben kämpften. Sie danke denen, die die Menschen bei diesem Kampf unterstützen, den Krankenschwestern, Pflegern und Medizinern.
„Das kommt mir in diesen Tagen manchmal zu kurz.“
Und die Regierungschefin fordert Zurückhaltung: „Es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir dafür den Preis zahlen, dass wir Todeszahlen am Tag von 590 Menschen haben, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht“, erklärt sie mit Blick auf improvisierte Glühweinstände, die von Restaurants aufgebaut wurden, die zwar geschlossen sind, aber Essen zum Mitnehmen anbieten dürfen. Das sei nicht das Ziel der Maßnahmen gewesen, sagt sie fast flehentlich.
Die Physikerin verteidigt vor den Bundestagsabgeordneten ihren Kurs, bei der Pandemiebekämpfung der Wissenschaft zu folgen. Europa stehe heute, wo es stehe, wegen der Aufklärung und des Glaubens an die Wissenschaft. „Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten nicht, und das wird auch weiter gelten.“Man müsse auf die Wissenschaft hören, „sonst entgleitet uns die Pandemie wieder“. Merkels Ausführungen legen ein erneutes Bund-Länder-Treffen noch vor Weihnachten nahe. Zwar nennt sie keinen Termin, aber sie appelliert an einheitliche Regelungen – dafür braucht es Abstimmungen der Länder untereinander.
Das Robert-Koch-Institut meldete am Mittwoch 20.815 Neuinfektionen,
„Wir müssen auf die Wissenschaft hören, sonst entgleitet uns die
Pandemie wieder“
Angela Merkel
das waren 3500 mehr als am Mittwoch vergangener Woche. Virologen warnen deshalb vor einer Rückkehr des exponentiellen Wachstums der Zahl der Ansteckungen. Trotz des seit dem 2. November geltenden Teil-Lockdowns konnte die Zahl der Infektionen bisher allenfalls auf hohem Niveau stabilisiert werden. Sie müsste jedoch wieder auf 50 Neuinfektionen pro
100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sinken, damit die Pandemie wieder kontrollierbar wird. Derzeit liegt diese Sieben-Tage-Inzidenz bei 148,8.
„Die Geschäfte jetzt noch schnell vor Weihnachten zu schließen, halte ich nicht für praktikabel. Das würde in der Bevölkerung auch nicht auf Akzeptanz stoßen, die wir aber für den Erfolg der Maßnahmen dringend benötigen“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg. „Die Menschen wollen ja vor Weihnachten noch einkaufen.“Der wirtschaftliche Schaden wäre zudem immens, wenn das Weihnachtsgeschäft ausfallen würde. „Bund und Länder sollten aber die bisher vereinbarten Lockerungen nach dem
24. Dezember wieder zurücknehmen. Für die Zeit vom 25. Dezember bis 10. Januar brauchen wir härtere Maßnahmen. Die Lockerungen zu Silvester hatte ich ohnehin nie richtig verstanden. Das Silvesterfest in größeren Gruppen muss dieses Jahr ausfallen“, so Landsberg.
Ab Weihnachten sollten sich wieder nur höchstens fünf Personen aus zwei Haushalten treffen dürfen. „Die Kanzlerin hat auch recht, was die Glühweinstände betrifft: Die laden Gruppen zum Zusammenstehen ein, das können wir uns momentan aber nicht leisten. In der Zeit vor Weihnachten empfehle ich, Schnelltests zu verteilen. Das ist besser als nichts, wenn die Menschen an Weihnachten ihre Verwandten besser schützen wollen.“Auch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund dringt auf strengere Regelungen: „Die in einigen Regionen bereits beschlossenen Maßnahmen für einen Lockdown sind zweifellos mit Härten verbunden, emotional und für viele auch finanziell. Ich sehe aber keine vernünftige Alternative“, sagt die Vorsitzende Susanne Johna unserer Redaktion. Die sieht auch die Kanzlerin an diesem 9. Dezember nicht. Aber sie hat Hoffnung: Die große Mehrheit der Deutschen habe gezeigt, dass sie bereit sei, die Regeln einzuhalten. „Dafür bin ich von Herzen dankbar, und das sollten wir alle miteinander sein.“