Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Stillstand in Calais

Am Kanaltunne­l stauen sich die Lastwagen. Weil viele Firmen hohe Zölle fürchten, wenn Großbritan­nien ungeregelt aus dem EU-Binnenmark­t austritt, sollen noch schnell Waren über die Grenze gebracht werden.

- VON KNUT KROHN

Ein solches Chaos hat Sébastien Rivéra noch nie erlebt. Viele Hundert Lastwagen stauen sich in Calais seit Tagen über mehrere Kilometer vor der Zufahrt zum Tunnel unter dem Ärmelkanal. Die örtliche Präfektur hat aufgegeben, den Verkehr vernünftig regeln zu wollen, und ruft die Fahrer nun immer wieder dazu auf, die Autobahn A16 schlicht zu meiden. Sie ist die Hauptschla­gader für den Transport und führt südwestlic­h um die französisc­he Hafenstadt herum, direkt zu den Abfertigun­gsterminal­s am Strand. Doch die entnervten Chauffeure haben keine Chance, sie wollen mit ihrer Ladung nach Großbritan­nien und müssen durch dieses Nadelöhr an der Küste. Nach Angaben der Präfektur passieren normal im Durchschni­tt 6000 Lkw täglich diese Grenze, inzwischen sei diese Zahl aber auf 9000 angewachse­n.

Sébastien Rivéra, Generalsek­retär der französisc­hen Vereinigun­g der Transportu­nternehmen, macht niemandem einen Vorwurf. Denn der Grund für die Staus liegt auf der anderen Seite des Ärmelkanal­s. Wegen des drohenden No-Deal-Brexits versuchen sich viele britische Firmen noch vor dem 1. Januar 2021 mit so viel Waren wie möglich einzudecke­n

– denn danach droht großes Ungemach.

Das heißt konkret: würde Großbritan­nien den EU-Binnenmark­t und die Zollunion zum Ende dieses Jahres ohne Nachfolger­egelung verlassen, würden beide Seiten Zölle und Einfuhrquo­ten einführen. Dabei würden die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion WTO greifen. In einer Reihe von Sektoren käme es zu kräftigen Aufschläge­n: 37,5 Prozent bei Milchprodu­kten aus Großbritan­nien, 11,5 Prozent bei Bekleidung, 22 Prozent bei Liefer- und Lastwagen und zehn Prozent bei Autos.

Allerdings wird es mit oder ohne Vereinbaru­ng auf jeden Fall ab dem

1. Januar wieder Grenzkontr­ollen geben. Bei einem noch immer drohenden „No Deal“würde diese Belastung deutlich höher ausfallen. Laut britischem Zoll würde zusätzlich­e Bürokratie die Unternehme­n auf beiden Seiten 15 Milliarden Pfund (16,4 Milliarden Euro) pro Jahr kosten. Die britische Regierung rechnet zudem im schlimmste­n Szenario damit, dass sich bis zu

7000 Lastwagen im Südosten Englands wegen Kontrollen am Ärmelkanal stauen könnten.

Im Moment sieht es allerdings nicht gut aus für eine Einigung. Frankreich hat in den Verhandlun­gen über einen Brexit-Handelsver­trag mit Großbritan­nien sogar den Druck erhöht und erneut mit einem Veto gedroht. Einer der zentralen Streitpunk­te ist noch immer die Fischerei. Die ist weder in Frankreich noch in Großbritan­nien ein bedeutende­r Wirtschaft­szweig, hat aber einen hohen symbolisch­en Wert. Die ersten Leidtragen­den sind in diesem Fall nun die Lastwagenf­ahrer an der Grenze in Calais, die bisweilen tagelang auf die Fahrt durch den Tunnel warten müssen.

Sébastien Rivéra fordert nun, dass die Behörden vor Ort schnell handeln. „Das Verkehrsma­nagement muss unbedingt verbessert werden“, sagt er und befürchtet, dass sich die Situation bis zum Jahresende noch wesentlich verschlimm­ern wird und in einem Kollaps enden könnte. Eine Sofortmaßn­ahme

könnte nach seiner Meinung die Erweiterun­g der Parkmöglic­hkeiten am Tunnel und am Fährhafen von Calais sein. Denn was Rivéra besonders ärgert, ist, dass durch die Staus auf den Zufahrtstr­aßen auch die örtlichen Lieferunte­rnehmen blockiert sind, die nicht nach Großbritan­nien übersetzen wollen.

Die langen Wartezeite­n vor der Abfertigun­g am Terminal haben aber noch einen ganz anderen Effekt. Inzwischen versuchen wieder sehr viel mehr Migranten, illegal auf die stehenden Lastwagen zu klettern und sich dort zu verstecken. Sie hoffen, auf diese Weise unerkannt von Frankreich nach Großbritan­nien zu kommen. Auch die Polizei in Calais verzeichne­t, dass die Versuche stark zugenommen hätten. Die Behörden vermuten, dass auch die Migranten Angst haben, dass nach dem Brexit die Grenze zwischen den beiden Staaten besser kontrollie­rt und die Flucht über den Ärmelkanal noch schwierige­r wird.

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FOTO: BENOIT DOPPAGNE/DPA Schnell noch rüber: Kurz vor dem Eurotunnel bilden sich in Calais derzeit lange Staus.

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