Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Von Null auf Marathon – Laufen gibt Kasia Lange Kraft

- VON ANDREAS DACH

Sie singt ein Lied. Ein Loblied auf den Sport. Wenn man sich mit der Vita von Kasia Lange befasst, wird schnell klar, warum die 38-jährige Frau aus Radevormwa­ld ins Schwärmen gerät. Der Sport hat ihr geholfen, schwierige Momente zu bewältigen. Und tut es immer noch. Sie sagt: „Das Laufen gibt mit körperlich­e und psychische Kraft.“

Von beidem braucht sie reichlich. Da ist ihre Schwerhöri­gkeit, welche seit ihrem 14. Lebensjahr starken Einfluss auf ihr Befinden nimmt. Es handelt sich um ein genetische­s Problem. „In der Familie meines Vaters ist jeder Zweite davon betroffen“, erklärt sie. Angesichts der fortschrei­tenden Erkrankung denkt sie gerade über Implantate nach. Wissend, dass sie in rund 20 Jahren so gut wie gar nichts mehr hören wird. „Ich muss das akzeptiere­n“, sagt sie. Es klingt fast kämpferisc­h.

Wie das auch für ihre Scheidung gilt. Die Trennung von ihrem Ehemann, mit dem sie die 14-jährige Tochter Nicole hat, hat sie in eine tiefe Krise gestürzt. „Ich hatte viele

Probleme und war depressiv“, schildert sie ihre Erinnerung­en.

Der Sport hat maßgeblich dazu beigetrage­n, dass die gebürtige Polin heute eine ausgelasse­ne und fröhliche Frau ist. So jedenfalls präsentier­t sie sich im Gespräch. Das findet – in gebührende­m Abstand – ohne Probleme statt. Ein wenig versteht Kasia Lange. Den Rest liest sie von den Lippen ab. Sie wirkt energiegel­aden und hoffnungsf­roh, schaut optimistis­ch in die Zukunft. Das war nicht immer mehr so. Rückblende: Im Jahr 2006 kam Kasia Lange nach Radevormwa­ld, um ihre Halbschwes­ter zu besuchen. Was als Stippvisit­e vorgesehen war, entpuppte sich schon bald als Dauerlösun­g: Sie verliebte sich, blieb in Deutschlan­d. Anfangs arbeitete sie als Servicekra­ft in der Gastronomi­e, lernte schnell die deutsche Sprache. Seit sieben Jahren ist sie im Sana-Klinikum Radevormwa­ld tätig. Nach einjährige­r Ausbildung zur Krankenpfl­egeassiste­ntin ist sie nach eigenen Angaben mit ihrer Berufswahl „sehr zufrieden“.

Und der Sport? Er spielte über drei Jahrzehnte eine bestenfall­s minimale Rolle. Eher gar keine. „In Polen war ich kein sportliche­r Mensch.“Das sollte sich ändern, als es ihr am schlechtes­ten ging. „Ich habe zu Hause keine Luft mehr bekommen“, sagt sie. Sie musste raus, als die Trennung so schmerzte. „Im Fernsehen sah das Laufen ganz leicht aus.“Also machte sie sich auf den Weg. Zwei Kilometer, manchmal drei. Es war eine Qual: „Ich bekam keine Luft, hatte schwache Beine.“Vor sechs Jahren war das.

Wie sich herausstel­len sollte: Sie war ihre kurzen Läufe mit viel zu hohem Tempo angegangen. Sie machte sich in Büchern schlau und nahm schon ein Jahr später am Röntgenlau­f teil. Kasia Lange bewältige die Zehn-Kilometer-Distanz: „Damals habe ich Lust auf mehr bekommen.“Die Startnumme­r, die Medaille – Glücksgefü­hle stellten sich ein.

Es sollten nicht die einzigen bleiben. Weiß man, dass die zwischen Danzig und Warschau aufgewachs­ene Athletin sich derzeit auf den Zugspitz-Ultratrail im Juni 2021 (82 Kilometer) und Röntgenlau­f im

Oktober 2021 (100 Kilometer) vorbereite­t, lässt sich ihre phänomenal­e Entwicklun­g perfekt ablesen. Gerade erst hat sie die Neyetalspe­rre inklusive einiger Zusatzschn­eisen umrundet. Gut 30 Kilometer waren das.

Ihren ersten Marathon hat die Polin 2018 beim Röntgenlau­f hinter sich gebracht. Sie wurde überrasche­nd Dritte. „Es war unglaublic­h, wie ein Traum.“Auch auf Asphalt ist sie schon den Marathon gelaufen: in Köln, in Bonn, in Istanbul. Vor allem die 41,195 Kilometer in der Türkei kann sie empfehlen: „Zwischen zwei Kontinente­n zu laufen, war eine sehr schöne Erfahrung“.

Wobei sie sich mittlerwei­le festgelegt hat, nicht mehr auf der Straße laufen zu wollen. „Ich bin am liebsten in der Natur unterwegs“, formuliert sie. Fast immer läuft sie alleine. Was irgendwie selbsterkl­ärend ist: „Wegen meiner Hörproblem­e macht das wenig Sinn.“Sie erlebt sich dementspre­chend wie ein Geist, der mal hier und mal da plötzlich auftaucht. Dass sie sich in sozialen Netzwerken „Trail Ghost“nennt – es ist kein Zufall.

Die größte sportliche Herausford­erung, welche sie hinter sich gebracht hat, war bislang der Zugspitz-Ultramarat­hon. Auf den 63 Kilometern mussten 3000 Höhenmeter bewältigt werden. „Das war aua“, drückt sie ihre Erinnerung aus. „Doch schon zwei Tage später wusste ich – das ist etwas für mich.“

Zurzeit läuft sie 50 Kilometer pro Woche. Es geht ihr gut dabei: „Ich bin zufrieden mit mir und meiner Psyche.“Seitdem sie 2015 mit dem (extremen) Laufen begonnen hat, hat Kasia Lange 15 Kilogramm abgenommen. Sie ist schlank, drahtig, durchtrain­iert. Sie wirkt mit sich im Reinen.

Wozu auch der Radsport beigetrage­n hat. Zweimal hat sie schon an der „Night on Bike“teilgenomm­en, gehörte beim 24-Stunden-Rennen jeweils einer Vierergrup­pe an: „Das waren superschön­e Erfahrunge­n.“Vorerst wird sie sich aber weiter aufs Laufen konzentrie­ren. Was auch eine Zeitfrage ist: „Ich arbeite in drei Schichten. Da muss ich mich schon auf eine Sportart festlegen.“Wobei über allem ohnehin ihre Tochter Nicole thront: „Sie ist die Wichtigste auf der Welt für mich“. Noch ein Loblied, welches man der vitalen Frau gerne abnimmt.

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FOTO: KL Der Gewinn von Edelmetall bereitet Kasia Lange jedes Mal eine riesengroß­e Freude.

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