Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Ein Kinderarzt auf Spurensuche
Dr. Thomas Schliermann untersucht zweimal wöchentlich in der Kinderschutzambulanz.
Gewalt hinterlässt auch seelische Narben. Vor allem bei Kindern. Wenn nun Mama oder Papa gar diejenigen sind, die ihren Kindern gegenüber gewalttätig werden, obwohl sie eigentlich die Bezugspersonen für Schutz und Trost sind, verstehen die kleinen Menschen die Welt nicht mehr. Und nicht selten ist dadurch auch ihre weitere Entwicklung in Gefahr: seelisch wie körperlich.
Auf diese medizinische Spurensuche begibt sich Dr. Thomas Schliermann (66) zweimal wöchentlich in der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisch Land. Der Vorsitzende des Vereins ist zugleich Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin – und spezialisiert auf Neuropädiatrie, das Fachgebiet, das sich mit Nervenkrankheiten bei Kindern beschäftigt. Er weiß: „Vernachlässigung oder Misshandlung können für Entwicklungsverzögerungen bei Kindern sorgen.“
Und diese Fälle sieht er sehr häufig in seinem Untersuchungszimmer, das eigentlich eher eine bunte Spielecke ist. Und der Doktor trägt in diesem Fall auch keinen weißen Kittel. In einer kindgerechten, angenehmen Atmosphäre untersucht er die jungen Patienten, stellt Eltern Fragen, beobachtet die Interaktion zwischen Mama und Kind oder Papa und Kind.
Denn in diesen Familien ist nichts normal. Sie sind hier, weil es bereits Vorfälle von Gewalt, Misshandlung oder Vernachlässigung gab – oder es Anzeichen für eine akute Gefahrenlage gibt.
Wie auch bei der Familie, die Dr. Thomas Schliermann an diesem Morgen kennenlernt. Es ist die achtfache Mutter (35) mit ihren beiden Mädchen (3 Jahre und 2 Monate), die allesamt als Notfall auf der Kinderstation im angrenzenden Sana-Klinikum aufgenommen wurden.
Die Redaktion berichtete bereits vor kurzem über die traurige Geschichte der alkoholabhängigen und traumatisierten Frau, die im Rausch gedrohte hatte, mit ihrem Baby vom Balkon zu springen. In der Vergangenheit gab es bereits Gewaltvorfälle. Das Jugendamt bat die Ärztliche Kinderschutzambulanz um Hilfe und um Einschätzung, wie gefährdet die fünf Kinder sind, die derzeit bei der 35-jährigen Mutter leben.
Einen Teil zu dieser Einschätzung liefert Dr. Thomas Schliermann mit seiner entwicklungsneurologischen Untersuchung. Die kleine Nele (Name von der Redaktion geändert) liegt gerade vor ihm auf der Wickelunterlage und strahlt den Kinderarzt mit einem breiten Lächeln an. Der Mediziner lässt erst eine Rassel von links nach rechts vor Neles Auge wandern, dann eine Taschenlampe. Sie folgt beidem aufmerksam. Auch den Kopf-selbst-hochhaltenTest besteht Nele mit Bravour.
Der Reflexhammer kommt zum Einsatz. „Die Motorik ist locker, und von der einstigen Fußfehlstellung ist auch nichts mehr zu sehen. Aus meiner Sicht alles bestens“, schlussfolgert Dr. Thomas Schliermann. Während der Untersuchung hat er der Mutter bereits Fragen zu Schwangerschaft,
Entwicklung und Verhalten gestellt.
Die dreijährige Anna (Name von der Redaktion geändert) hätte der Mediziner eigentlich ebenfalls gern untersucht. Doch er hat heute kein leichtes Spiel. Seitdem Anna das Zimmer betreten hat, weint sie pausenlos. Auch die schönen Spielzeuge wie Puppen, bunte Holzklötze oder Autos können sie nicht umstimmen.
Sie krallt sich auf dem Schoß ihrer Mutter fest und weint unerlässlich. Dr. Thomas Schliermann versucht ein paar Mal, Spielangebote zu machen, zu ihr durchzudringen – keine Chance. Er lässt es schließlich dabei bewenden und befragt stattdessen die Mutter. Kann Anna schon Farben unterscheiden? Ist sie schon trocken? Welche Wörter kann sie sprechen?
Als die drei wieder auf dem Weg in ihr Zimmer auf der Station sind, zieht der Kinderarzt bereits ein erstes Fazit. „Das Verhalten, das wir gesehen haben, ist nicht normal für eine Dreijährige. Normalerweise wären die Spielangebote für ein Kind dieses Alters attraktiver. Dieses Bindungsverhalten kann natürlich in der Vorgeschichte begründet sein.“
Denn während Neles und Annas Mutter zuletzt in einer Klinik untergebracht war, weil es wieder einen Vorfall gab, waren die Mädchen in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht – und wurden damit aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und von der Mama getrennt. Doch gerade die könnte eine Gefahr für die beiden Kinder darstellen. Das können die kleinen Mädchen freilich noch nicht verstehen.