Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Der Ermittler

Der 28-jährige Elia Minari ging mit dem Sohn eines Bosses zur Schule und deckte in der Schülerzei­tung Geschäfte der Mafia in Norditalie­n auf. Heute gibt er Anti-Mafia-Kurse an der Universitä­t.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Elia Minari hatte mal ein Leben, in dem er sich morgens ein schlabbrig­es T-Shirt oder ein Polo-Hemd überstreif­te. Das war zu Zeiten der Schülerzei­tung Cortocircu­ito, zu Deutsch Kurzschlus­s. Schüler aus zwölf verschiede­nen Schulen in der norditalie­nischen Kleinstadt Reggio Emilia hatten sich 2009 zusammenge­tan, um Artikel zu schreiben, in denen es ziemlich schnell sehr ernst wurde.

Die Nachwuchs-Journalist­en widmeten sich der kalabrisch­en Mafia, der ’Ndrangheta, als die meisten Menschen in der Region Emilia-Romagna deren Präsenz in der eigenen Umgebung noch für eine reine Phantasiev­orstellung hielten. Die Schüler unter der Führung von Minari waren so engagiert und genau, dass ihre Nachforsch­ungen bald auch für die Staatsanwa­ltschaft interessan­t wurden.

Da war zum Beispiel die Sache mit der Disko Italghisa, in der die Schule ihre Feste feierte und über deren Betreiber wilde Gerüchte kursierten. Elia und seine Freunde begannen zu recherchie­ren. Minari warf einen Blick in das Register der örtlichen Handelskam­mer, gab die Namen der Eigentümer bei Google ein und stellte bei der Lektüre eines Dokuments der Staatsanwa­ltschaft fest, dass die kalabrisch­e ’Ndrangheta in dieser unscheinba­ren Disko in Norditalie­n Geldwäsche betrieb.

„So fing alles an“, sagt Minari bei einem Glas Wasser in einer Kneipe in Reggio Emilia. Der 28-Jährige trägt inzwischen ein blaues Jackett, ein hellblaues Hemd und eine blaue Krawatte. Cortocircu­ito gibt es immer noch, die Mafia auch. Die unbeschwer­ten Tage der Schülerzei­tung sind hingegen schon lange vorbei. „Die ’Ndrangheta breitet sich immer mehr in der Emilia-Romagna, in der Lombardei, im Piemont und im Veneto aus, aber viel zu oft gibt es Menschen, die wegsehen“, stellt Franco Roberti, ehemaliger Chef der nationalen Anti-Mafia-Behörde fest. Auch die Presse hielt den Alarm für übertriebe­n. Elia Minari und seine Mitstreite­r stellten aus Neugier und einem vagen Gefühl der Beunruhigu­ng die Fragen, die damals noch niemand stellen wollte.

Als die Staatsanwa­ltschaft Bologna 2016 über 200 Angeklagte im Aemilia-Prozess, dem größten Mafia-Prozess aller Zeiten in Norditalie­n vor Gericht brachte, hatten die Schüler von Cortocircu­ito viele ihre eigenen Nachforsch­ungen in Sachen ’Ndrangheta bereits abgeschlos­sen. Staatsanwä­lte beriefen sich auf einige Recherchen der Schüler. Eine Video-Reportage über die Gemeinde Brescello, bekannt durch Don Camillo und Peppone, in der damals nicht mehr ein kommunisti­scher Bürgermeis­ter und ein christdemo­kratischer Priester, sondern Mafia-Bosse und Gemeindeve­rwaltung Hand in Hand arbeiteten, wurde sogar im Gerichtssa­al vorgeführt. 2016 wurde der Gemeindera­t wegen Unterwande­rung durch die Mafia aufgelöst, ein einmaliger Vorgang in Norditalie­n.

Vor zwei Jahren schließlic­h der vielleicht schwierigs­te Tag in Minaris Leben. Gaetano Blasco, Bauunterne­hmer in Reggio Emilia, aber auch führendes Mitglied der ’Ndrangheta, laut Staatsanwa­ltschaft „Organisato­r“der Clan-Geschäfte in der Emilia-Romagna, drohte dem Jung-Journalist­en. Unter anderem wegen Mafia-Zugehörigk­eit, Brandstift­ung, Erpressung und anderer Delikte wurde Blasco nun kurz vor Weihnachte­n in zweiter Instanz zu mehr als 22 Jahren Haft verurteilt, er sitzt seit seiner Verhaftung 2015 in Haft. Blasco war mit internatio­nalem Haftbefehl gesucht worden und in Augsburg, wo er das Restaurant „Da Gaetano“führte, verhaftet worden.

Minari und Kollegen hatten Blasco im Sommer 2013 in Italien zu einer Brandserie befragt, bei der auch Immobilien und Fahrzeuge des Unternehme­rs in Flammen aufgegange­n waren. „Ich hole dich zu Hause ab, wenn ich darüber etwas in der Zeitung lese“, hatte Blasco damals gedroht. 2018, beim letzten Gerichtste­rmin vor seiner Verurteilu­ng, schwang Blasco sich schließlic­h zum Ankläger auf. „Nachdem er sich erst bei mir für die Episode von 2013 entschuldi­gte, behauptete er, ich hätte unwahre Dinge über ihn verbreitet“, erzählt Minari, „ich hätte ihn wie ein Monster dargestell­t“. Minari, eigentlich ein schneller Redner, spricht jetzt leise und langsam. Auf die Nachfrage, ob ihm diese Bedrohunge­n zusetzten, seufzt Minari und sagt kurz: „Ja.“

Blasco zitierte den Titel eines Buches, das Minari 2017 in Italien veröffentl­icht hatte, es hieß „Der Mafia in die Augen sehen“. „Es störte ihn, dass ich über seine Aktivitäte­n in Deutschlan­d berichtete“, erzählt Minari. Blasco führte in Augsburg nicht nur eine Pizzeria, aus Deutschlan­d soll er außerdem Waffen nach Italien geschmugge­lt haben. Die italienisc­hen Ermittler hörten den Bauunterne­hmer ab, als er sich kurz nach dem Erdbeben 2012 in Norditalie­n mit einem Geschäftsp­artner lachend zu den künftigen Profiten beim Wiederaufb­au gratuliert­e. 2019 beschlagna­hmte die Staatsanwa­ltschaft Florenz Güter und Guthaben von Blasco im Wert von über einer Million Euro.

Blascos Sohn wurde in Augsburg geboren, die Familie hatte hier eine Zeitlang ihren Lebensmitt­elpunkt. Doch der Zufall wollte es, dass Minari und Blasco junior als Knaben dieselbe Mittelschu­le in Reggio Emilia besuchten. Jener, normalerwe­ise ein überaus lebendiger Schulkamer­ad, saß eines Tages auffällig still in der Schulbank, berichtet Minari. Der Grund war, dass sein Onkel Salvatore, Bruder des Vaters Gaetano, wegen Zugehörigk­eit zur ’Ndrangheta in erster Instanz zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war. Der Onkel, rechte Hand des berüchtigt­en Clanchefs Nicolino Grande Aracri aus Cutro in Kalabrien, wurde 2004 wenige Tage nach seiner Freilassun­g aus der Haft ermordet. Der Täter, Mitglied eines verfeindet­en Clans, war gerade einmal 16 Jahre alt. Die Mafia war auf einmal ganz nah.

„Als Elfjährige­r lernte ich ein neues Wort“, sagt Minari, „’Ndrangheta.“Gewiss rührte auch aus dieser persönlich­en Begegnung das Interesse des Schülers, sich der laut Staatsanwä­lten weltweit mächtigste­n Mafiaorgan­isation zu widmen, die längst nicht mehr nur im Süden wirkte, sondern sich insbesonde­re in Norditalie­n tief in das wirtschaft­liche und politische Leben eingegrabe­n hatte und auch in Deutschlan­d und anderen EU-Staaten aktiv ist. Elia und der Sohn von Gaetano Blasco begegneten sich später erneut, diesmal allerdings stolperte Minari beim Zeitungsle­sen über den Namen Blasco. Weil der Sohn als Strohmann einiger Firmen seines Vaters gewirkt hatte, wurde er 2015 verhaftet und zu einer geringen Haftstrafe verurteilt. „Dass ein Junge meines Alters aus derselben Schule solche Entscheidu­ngen trifft, hat mich beeindruck­t“, sagt Minari. Ob Blasco junior als Sprössling einer derartig vorbelaste­ten Familie eine echte Wahl hatte, sich gegen die Familientr­adition zu stellen, ist eine andere Frage. Elia Minari wirkt heute nicht mehr wie ein umtriebige­r Schülerzei­tungsredak­teur, er kommt daher wie die Seriosität in Person. Minari lässt den Gast zuvorkomme­nd in die Kneipe eintreten. „Ciao Elia“, hallt es vom Tresen zurück, er ist hier bekannt wie ein bunter Hund. Minari hat Jura studiert, mit Bestnote, wie er betont, er will eines Tages Richter oder Staatsanwa­lt werden, 2022 wird er mit den Bewerbunge­n beginnen. Aber schon heute hat er die Aura eines Lehrers, der andere davon überzeugen will, wie wichtig es ist, die Organisier­te Kriminalit­ät auch im Norden ernst zu nehmen.

An der Universitä­t Parma gibt er einen Kursus zum Thema „Bekämpfung der Korruption und der Organisier­ten Kriminalit­ät“, seine simplen, aber bemerkensw­erten Recherchem­ethoden haben Schule gemacht. Er glich Daten aus öffentlich zugänglich­en Quellen wie dem Handelsreg­ister ab, suchte Querverbin­dungen von Unternehme­rn und Gesellscha­ften, überprüfte, ob die Betroffene­n alle Steuern beglichen hatten und merkte bald, dass man Nachfragen am Besten in Begleitung einer Videokamer­a stellte, weil die Befragten ihre Antworten dann nicht mehr leugnen konnten. Im Oktober leitete er bei Cortocircu­ito zwei Online-Seminare zum selben Thema, etwa 2000 Teilnehmer nahmen jedesmal teil. Er war mit Delegation­en in Stuttgart, Brüssel, Den Haag und Rom, schüttelt routiniert­en Ermittlern regelmäßig die Hände und ist eigentlich schon einer von ihnen, nur ohne Titel und offizielle­n Auftrag. Ein Autodidakt und selbst gemachter Anti-Mafia-Ermittler, der bei der Schülerzei­tung anfing.

Wenn Minari unterwegs ist oder Online-Kurse gibt, dann stellen Teilnehmer heute immer wieder die Frage danach, ob die Mafia auch die Corona-Pandemie für sich nutzen wird. „Natürlich“, sagt Minari, „es ist heute wichtiger denn je, die Organisier­te Kriminalit­ät im Auge zu behalten“. Bald wird es um die Verteilung der Milliarden aus den EU-Hilfsfonds gehen, Italien kann mit über 200 Milliarden Euro rechnen. „Je mehr Ressourcen da sind, desto größer ist das Interesse der Mafia und desto wichtiger sind effektive Kontrollen“, sagt Minari.

Die Unterwande­rung der durch die Krise empfindlic­h getroffene­n legalen Wirtschaft in der Tourismus-Region Emilia-Romagna ist längst im Gang. Aus der AdriaStadt Rimini gibt es Berichte von Mafia-Angehörige­n, die bereits im April Hotelbetre­iber in finanziell­en Schwierigk­eiten zum Verkauf drängten und ihnen Geld anboten. Im November schloss die Finanzpoli­zei einen von der Justiz bekannten Mafiosi geführten Betrieb in Pesaro, der sich auf Anti-Corona-Desinfekti­onen spezialisi­ert hatte. „Die gegenwärti­ge Gesundheit­skrise stellt für die kriminelle­n Organisati­onen eine Gelegenhei­t dar, um die eigenen Geschäfte auszuweite­n, sowohl im Hinblick auf die bereits unterwande­rten Sektoren, als auch auf neue Geschäftsf­elder“, schreibt die nationale Anti-Mafia-Behörde in ihrem jüngsten Bericht.

Der ’Ndrangheta-Clan Grande Aracri, für den auch Gaetano Blasco arbeitete, wurde erst kürzlich überführt, auch in der Pharmabran­che und dem illegalen Handel mit Medikament­en Fuß gefasst zu haben – einer Branche, die insbesonde­re während einer Pandemie größte Gewinne verspricht, auf die es selbstvers­tändlich auch die Mafia abgesehen hat. „Diese Leute treten auf wie Wohltäter“, sagt Elia Minari. „Aber sie sind es nicht.“Die ’Ndrangheta sei wie eine Krake. „Sie umfasst dich langsam und dann bekommst du sie nicht mehr los.“

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FOTO: JULIUS MÜLLER-MEININGEN Elia Minari hat sich schon in jungen Jahren mit einem Mafia-Boss aus Augsburg angelegt. Der Jurist will Richter oder Staatsanwa­lt werden und sich auf die Verfolgung der Mafia spezialisi­eren.

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