Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Streiten will gelernt sein

Auseinande­rsetzungen prägen eine moderne Gesellscha­ft. Doch es gibt Konvention­en, die man im Zwist beachten sollte.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Innerhalb des Spielfilms nehmen Gerichtsdr­amen eine besondere Stellung ein. Alle beteiligte­n Personen befinden sich zumeist in einem geschlosse­nen Raum, die Handlung besteht hauptsächl­ich aus Redebeiträ­gen zum selben Thema, der Ablauf des Prozesses ist immer derselbe: Anklage, Verteidigu­ng, Urteil. Was, bitte, macht „Zeugin der Anklage“, „Die zwölf Geschworen­en“oder „Die Jury“dann so spannend?

Die eigentümli­che Faszinatio­n des Genres rührt nicht nur von der Einheit des Ortes, der Handlung und der Zeit her, die jedes klassische Drama ausmacht, sondern ergibt sich vor allem aus der Strenge des Verfahrens, aus den präzise definierte­n Rollen, ihrer klaren Verteilung, den strikten Regeln der Gesprächsf­ührung und der genauen Kontrolle ihrer Einhaltung. An kaum einem anderen Platz sind die Vorgaben für Fairness derart komplex. Niemand soll bevorzugt, keiner benachteil­igt werden. Ein solch enges Korsett erzeugt zugleich eine gewaltige Konzentrat­ion auf das Wesentlich­e.

Denn darum geht es in einem Rechtsstre­it: um nichts weniger als um Wahrheitsf­indung, um Gerechtigk­eit und nicht zuletzt um die Verbindlic­hkeit, die ein Urteil schaffen muss. Damit das Leben weitergehe­n kann. Es geht mithin ums große Ganze. Damit das nicht aus dem Blickfeld gerät, gilt es, einen Konflikt möglichst frei von Emotionen zu klären, mit Argumenten, die belastbar sind, weil sie auf Fakten beruhen. Gerade vor Gericht, wo Enttäuschu­ng und Wut, Trauer und Hass, Verzweiflu­ng und Rachsucht die Menschen in den Wahnsinn treiben, kommt es auf allerhöchs­te Streitkult­ur an. Auf ihr gründet das Vertrauen in das Recht.

Nun müssen die meisten Zwistigkei­ten im Alltag ohne Staatsanwa­lt, Verteidige­r und Richter auskommen, und das ist gut so. Trotzdem: Streiten will gelernt sein. Kain und Abel beherrscht­en diese Kunst noch nicht. Das Ergebnis ist eine frühe Warnung aus den Anfängen der Menschheit an all ihre Nachfahren. Doch schon die alten Griechen und Römer beharkten sich lustvoll mit Argumenten, eingewoben in raffiniert­e Rhetorik. Das niveauvoll­e Streitgesp­räch genoss in der Antike hohes Ansehen und liefert bis heute das Vorbild für Debattierc­lubs – zeigt es doch, wie kreativ man mit der Lösung von Konflikten umgehen kann.

Aber suchen wir auch im wirklichen Leben nicht ständig nach Wahrheit, Gerechtigk­eit, nach tragfähige­n Kompromiss­en? Leiden wir nicht erheblich, wenn all das nicht erreicht werden kann? Menschlich­e Kommunikat­ion ist ein hochkomple­xer Vorgang, der immer auch Anlässe für Missverstä­ndnisse, Konflikte und Zerwürfnis­se bietet.

Die Chance auf eine Einigung auch in verzwickte­r Lage vergrößert dabei derjenige, der sich nicht allzu weit von den Prinzipien der Jurisdikti­on entfernt. Überall dort, wo Streit programmie­rt ist, braucht es allgemein anerkannte Regeln für eine Lösung. Gerade in der Demokratie, jener „schlechtes­ten aller Regierungs­formen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobier­t worden sind”, wie Winston Churchill einst grummelnd befand, sind sie bitter nötig. Ohne Form kein Inhalt.

Denn heftige Auseinande­rsetzungen zählen nun einmal zum Wesen dieser Staatsform; sie lebt vom öffentlich­en Diskurs. Ständig prallen in der modernen, offenen Gesellscha­ft zum Teil irre Gegensätze aufeinande­r. Das liegt an unterschie­dlichen Erwartunge­n, und Erwartunge­n sind etwas Positives. Ohne sie kann kein Mensch leben. Das macht die Vitalität, Kreativitä­t, Flexibilit­ät, kurzum die Freiheit der westlichen Lebensweis­e aus und kann funktionie­ren, wenn sich alle an Konvention­en, Anstand und – früher hätte man gesagt – die gute Form halten.

Wenn ein Konflikt eskaliert, liegt es meist an einem Mangel an Streitkult­ur, nicht an sachlichen Differenze­n. „Wer die Gesellscha­ft nicht entbehren kann, soll sich ihren Gebräuchen unterwerfe­n, weil sie mächtiger sind als er“, mahnte der deutsche Schriftste­ller und Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge (1752– 1796). Damals, im 18. Jahrhunder­t, waren Konvention­en sehr mächtig. Die Staatsform war autoritär, das Gespräch auf Augenhöhe zwischen den unterschie­dlichen Klassen undenkbar, die Lage übersichtl­ich. Das hat sich geändert. Pluralität löst schon Anfang des 20. Jahrhunder­ts Eindeutigk­eit ab, Aufbegehre­n die Harmonie. Vor rund einem halben Jahrhunder­t wurden dann althergebr­achte Rollen plötzlich nicht mehr fraglos akzeptiert. Die 68er-Bewegung wirkte befreiend. Allerdings: Die Regeln des Miteinande­rs müssen seither immer wieder aufs Neue ausgehande­lt werden.

Deshalb können Freiheit und gesellscha­ftliche Vielfalt als anstrengen­d empfunden werden. Eine Reihe von Menschen hat diese Dynamik schon immer als Zumutung begriffen, als Überforder­ung, was nachvollzi­ehbar ist. Doch befindet sich unter ihnen eine wachsende Zahl von Leuten, die aufgrund ihrer Angst vor Kontrollve­rlust glaubt, die Regeln sabotieren zu dürfen, Leute, die auf Anstand pfeifen und in gesellscha­ftlichen Unterschie­den ein willkommen­es Mittel zur Spaltung sehen. Das ist inakzeptab­el. Demokratie ist verwundbar. Und einer ihrer wichtigste­n Schutzschi­lde bleibt die Kunst des Streitens.

Donald Trump hat den vergangene­n vier Jahren jede sich bietende Gelegenhei­t dazu genutzt, der Debattenku­ltur in seinem Land und über dessen Grenzen hinaus zu schaden. Nicht nur, dass der amerikanis­che Präsident Argumente nicht gelten ließ – er ignorierte sie komplett. Er log, dass sich die Balken bogen, er zeigte sich unempfängl­ich für Vernunft. Das ist schlimm genug, ließe sich aber noch mit einem gewissen Grad von Beschränkt­heit erklären. Aber Trump ist keineswegs dumm. Was ihn wirklich gefährlich machte, war seine Verachtung für die Regeln, für den Anstand, für die gute Form, also für das, was ein gedeihlich­es Miteinande­r erst möglich macht.

Es sind Konvention­en, die definieren, wann jemand als Sieger die Bühne verlässt. Doch zugleich lassen sie die Niederlage als Normalfall erscheinen und sorgen dafür, dass dem Verlierer nicht auch sein Gesicht abhandenko­mmt und er Teil der Gemeinscha­ft bleiben kann. Trump konnte nicht verlieren, lieber legte er die Axt an die Grundpfeil­er der Verfassung, welche die USA seit 1787 stützen. Trump beging Verrat, den Millionen seiner Anhänger bejubelten.

Eine Erosion der Streitkult­ur, eine Verrohung des Tons findet aber auch in Deutschlan­d statt, und das hat lange vor Trump begonnen. Dabei sollten gerade die Deutschen den Wert der Streitkuns­t kennen und schätzen. In ihrem dunkelsten Kapitel war es gefährlich, auch nur ein einziges sachliches Argument gegen die politische Führung vorzubring­en. An deren Spitze stand ein „Führer“, der sich nicht gern dreinreden ließ. Wer sich mit dem autoritäre­n Regime der Nazis anlegte, riskierte sein Leben. Erst nach dem Krieg hatte der

glückliche­re Teil des Landes das Privileg, die Herausford­erung der Freiheit annehmen zu dürfen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte entwickelt­e sich, zögernd zwar, aber dann doch entschiede­n eine Debattenku­ltur, die die Werte der neuen, freiheitli­ch-rechtliche­n Grundordnu­ng nicht nur respektier­te, sondern beförderte.

Heute ist „Wutbürger“ein eingeführt­er Begriff, „Pegida“eine zweifelhaf­te Marke, und „Querdenker“demonstrie­ren neuerdings völlig ungeniert, wie sehr sie Regeln und damit Teile der Gesellscha­ft verachten. Nun kann Ärger ein hilfreiche­s Gefühl sein; er zeigt, welche Werte Menschen wichtig sind. Auch gegen den so harmlos daherkomme­nden Satz „Das muss doch mal gesagt werden“lässt sich im Prinzip wenig einwenden. Es kommt allerdings ganz wesentlich auf das Wie an. Wut aber kann niemals zur Lösung eines Konflikts beitragen. Wutbürger beharren nicht nur auf ihrem Furor, sie verstärken ihn noch, indem sie die Gemeinscha­ft Gleichgesi­nnter suchen, sie zelebriere­n ihn, wenn sie im Chor brüllen. Konstrukti­ve Ideen aber sind nicht von ihnen zu erwarten.

Ohne Form kein Inhalt, ohne Konsens über die Form: Chaos. Regeln, Konvention­en und der gute Ton mögen nicht immer starke Waffen gegen das Chaos sein, doch es sind die einzigen. Deshalb ist es so gefährlich, den Konsens über den Umgang miteinande­r, die Regeln, die eine Gesellscha­ft verbinden, herabzuset­zen, sich über sie hinwegzuse­tzen, sie aufs Spiel zu setzten. Im Grunde beruht Kultur auf einer Kultur des Streitens, auf dem Respekt anderen gegenüber, der darin zum Ausdruck kommt. Nur eine hohe Streitkult­ur vermag herzustell­en, was besonders in einer modernen, offenen Gesellscha­ft unentbehrl­ich ist: Vertrauen.

Gerade in der Pandemie zeigt sich, wie Vertrauen wirkt: Vertrauen führt Menschen zusammen, es nimmt ihnen ihre Angst, macht sie stärker, als sie sich alleine fühlen würden. Es ist zulässig, oftmals berechtigt, Kritik an den Institutio­nen des Staates zu üben, aber verachten, sie gar bekämpfen zerstört Vertrauen fundamenta­l. Ist es einmal verloren, ist es schwer, dieses friedensti­ftende Gefühl zurückzuer­langen.

Auch im neuen Jahr wird die Bekämpfung des Virus eine Herausford­erung sein. Es beginnt hoffnungsv­oll – auch weil ein mächtiger Zerstörer von Vertrauen seinem Platz im Weißen Haus räumen muss. Es reicht nicht, den Schaden zu bedauern, der angerichte­t wurde. Besser wäre es, sich 2021 um eine Renaissanc­e der Kunst des Streitens zu bemühen. „Es gibt keinen, der für uns das Leben ordnet und organisier­t“, sagt der renommiert­e Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler.

Das können nur wir selbst.

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