Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Streiten will gelernt sein
Auseinandersetzungen prägen eine moderne Gesellschaft. Doch es gibt Konventionen, die man im Zwist beachten sollte.
Innerhalb des Spielfilms nehmen Gerichtsdramen eine besondere Stellung ein. Alle beteiligten Personen befinden sich zumeist in einem geschlossenen Raum, die Handlung besteht hauptsächlich aus Redebeiträgen zum selben Thema, der Ablauf des Prozesses ist immer derselbe: Anklage, Verteidigung, Urteil. Was, bitte, macht „Zeugin der Anklage“, „Die zwölf Geschworenen“oder „Die Jury“dann so spannend?
Die eigentümliche Faszination des Genres rührt nicht nur von der Einheit des Ortes, der Handlung und der Zeit her, die jedes klassische Drama ausmacht, sondern ergibt sich vor allem aus der Strenge des Verfahrens, aus den präzise definierten Rollen, ihrer klaren Verteilung, den strikten Regeln der Gesprächsführung und der genauen Kontrolle ihrer Einhaltung. An kaum einem anderen Platz sind die Vorgaben für Fairness derart komplex. Niemand soll bevorzugt, keiner benachteiligt werden. Ein solch enges Korsett erzeugt zugleich eine gewaltige Konzentration auf das Wesentliche.
Denn darum geht es in einem Rechtsstreit: um nichts weniger als um Wahrheitsfindung, um Gerechtigkeit und nicht zuletzt um die Verbindlichkeit, die ein Urteil schaffen muss. Damit das Leben weitergehen kann. Es geht mithin ums große Ganze. Damit das nicht aus dem Blickfeld gerät, gilt es, einen Konflikt möglichst frei von Emotionen zu klären, mit Argumenten, die belastbar sind, weil sie auf Fakten beruhen. Gerade vor Gericht, wo Enttäuschung und Wut, Trauer und Hass, Verzweiflung und Rachsucht die Menschen in den Wahnsinn treiben, kommt es auf allerhöchste Streitkultur an. Auf ihr gründet das Vertrauen in das Recht.
Nun müssen die meisten Zwistigkeiten im Alltag ohne Staatsanwalt, Verteidiger und Richter auskommen, und das ist gut so. Trotzdem: Streiten will gelernt sein. Kain und Abel beherrschten diese Kunst noch nicht. Das Ergebnis ist eine frühe Warnung aus den Anfängen der Menschheit an all ihre Nachfahren. Doch schon die alten Griechen und Römer beharkten sich lustvoll mit Argumenten, eingewoben in raffinierte Rhetorik. Das niveauvolle Streitgespräch genoss in der Antike hohes Ansehen und liefert bis heute das Vorbild für Debattierclubs – zeigt es doch, wie kreativ man mit der Lösung von Konflikten umgehen kann.
Aber suchen wir auch im wirklichen Leben nicht ständig nach Wahrheit, Gerechtigkeit, nach tragfähigen Kompromissen? Leiden wir nicht erheblich, wenn all das nicht erreicht werden kann? Menschliche Kommunikation ist ein hochkomplexer Vorgang, der immer auch Anlässe für Missverständnisse, Konflikte und Zerwürfnisse bietet.
Die Chance auf eine Einigung auch in verzwickter Lage vergrößert dabei derjenige, der sich nicht allzu weit von den Prinzipien der Jurisdiktion entfernt. Überall dort, wo Streit programmiert ist, braucht es allgemein anerkannte Regeln für eine Lösung. Gerade in der Demokratie, jener „schlechtesten aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind”, wie Winston Churchill einst grummelnd befand, sind sie bitter nötig. Ohne Form kein Inhalt.
Denn heftige Auseinandersetzungen zählen nun einmal zum Wesen dieser Staatsform; sie lebt vom öffentlichen Diskurs. Ständig prallen in der modernen, offenen Gesellschaft zum Teil irre Gegensätze aufeinander. Das liegt an unterschiedlichen Erwartungen, und Erwartungen sind etwas Positives. Ohne sie kann kein Mensch leben. Das macht die Vitalität, Kreativität, Flexibilität, kurzum die Freiheit der westlichen Lebensweise aus und kann funktionieren, wenn sich alle an Konventionen, Anstand und – früher hätte man gesagt – die gute Form halten.
Wenn ein Konflikt eskaliert, liegt es meist an einem Mangel an Streitkultur, nicht an sachlichen Differenzen. „Wer die Gesellschaft nicht entbehren kann, soll sich ihren Gebräuchen unterwerfen, weil sie mächtiger sind als er“, mahnte der deutsche Schriftsteller und Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge (1752– 1796). Damals, im 18. Jahrhundert, waren Konventionen sehr mächtig. Die Staatsform war autoritär, das Gespräch auf Augenhöhe zwischen den unterschiedlichen Klassen undenkbar, die Lage übersichtlich. Das hat sich geändert. Pluralität löst schon Anfang des 20. Jahrhunderts Eindeutigkeit ab, Aufbegehren die Harmonie. Vor rund einem halben Jahrhundert wurden dann althergebrachte Rollen plötzlich nicht mehr fraglos akzeptiert. Die 68er-Bewegung wirkte befreiend. Allerdings: Die Regeln des Miteinanders müssen seither immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden.
Deshalb können Freiheit und gesellschaftliche Vielfalt als anstrengend empfunden werden. Eine Reihe von Menschen hat diese Dynamik schon immer als Zumutung begriffen, als Überforderung, was nachvollziehbar ist. Doch befindet sich unter ihnen eine wachsende Zahl von Leuten, die aufgrund ihrer Angst vor Kontrollverlust glaubt, die Regeln sabotieren zu dürfen, Leute, die auf Anstand pfeifen und in gesellschaftlichen Unterschieden ein willkommenes Mittel zur Spaltung sehen. Das ist inakzeptabel. Demokratie ist verwundbar. Und einer ihrer wichtigsten Schutzschilde bleibt die Kunst des Streitens.
Donald Trump hat den vergangenen vier Jahren jede sich bietende Gelegenheit dazu genutzt, der Debattenkultur in seinem Land und über dessen Grenzen hinaus zu schaden. Nicht nur, dass der amerikanische Präsident Argumente nicht gelten ließ – er ignorierte sie komplett. Er log, dass sich die Balken bogen, er zeigte sich unempfänglich für Vernunft. Das ist schlimm genug, ließe sich aber noch mit einem gewissen Grad von Beschränktheit erklären. Aber Trump ist keineswegs dumm. Was ihn wirklich gefährlich machte, war seine Verachtung für die Regeln, für den Anstand, für die gute Form, also für das, was ein gedeihliches Miteinander erst möglich macht.
Es sind Konventionen, die definieren, wann jemand als Sieger die Bühne verlässt. Doch zugleich lassen sie die Niederlage als Normalfall erscheinen und sorgen dafür, dass dem Verlierer nicht auch sein Gesicht abhandenkommt und er Teil der Gemeinschaft bleiben kann. Trump konnte nicht verlieren, lieber legte er die Axt an die Grundpfeiler der Verfassung, welche die USA seit 1787 stützen. Trump beging Verrat, den Millionen seiner Anhänger bejubelten.
Eine Erosion der Streitkultur, eine Verrohung des Tons findet aber auch in Deutschland statt, und das hat lange vor Trump begonnen. Dabei sollten gerade die Deutschen den Wert der Streitkunst kennen und schätzen. In ihrem dunkelsten Kapitel war es gefährlich, auch nur ein einziges sachliches Argument gegen die politische Führung vorzubringen. An deren Spitze stand ein „Führer“, der sich nicht gern dreinreden ließ. Wer sich mit dem autoritären Regime der Nazis anlegte, riskierte sein Leben. Erst nach dem Krieg hatte der
glücklichere Teil des Landes das Privileg, die Herausforderung der Freiheit annehmen zu dürfen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte entwickelte sich, zögernd zwar, aber dann doch entschieden eine Debattenkultur, die die Werte der neuen, freiheitlich-rechtlichen Grundordnung nicht nur respektierte, sondern beförderte.
Heute ist „Wutbürger“ein eingeführter Begriff, „Pegida“eine zweifelhafte Marke, und „Querdenker“demonstrieren neuerdings völlig ungeniert, wie sehr sie Regeln und damit Teile der Gesellschaft verachten. Nun kann Ärger ein hilfreiches Gefühl sein; er zeigt, welche Werte Menschen wichtig sind. Auch gegen den so harmlos daherkommenden Satz „Das muss doch mal gesagt werden“lässt sich im Prinzip wenig einwenden. Es kommt allerdings ganz wesentlich auf das Wie an. Wut aber kann niemals zur Lösung eines Konflikts beitragen. Wutbürger beharren nicht nur auf ihrem Furor, sie verstärken ihn noch, indem sie die Gemeinschaft Gleichgesinnter suchen, sie zelebrieren ihn, wenn sie im Chor brüllen. Konstruktive Ideen aber sind nicht von ihnen zu erwarten.
Ohne Form kein Inhalt, ohne Konsens über die Form: Chaos. Regeln, Konventionen und der gute Ton mögen nicht immer starke Waffen gegen das Chaos sein, doch es sind die einzigen. Deshalb ist es so gefährlich, den Konsens über den Umgang miteinander, die Regeln, die eine Gesellschaft verbinden, herabzusetzen, sich über sie hinwegzusetzen, sie aufs Spiel zu setzten. Im Grunde beruht Kultur auf einer Kultur des Streitens, auf dem Respekt anderen gegenüber, der darin zum Ausdruck kommt. Nur eine hohe Streitkultur vermag herzustellen, was besonders in einer modernen, offenen Gesellschaft unentbehrlich ist: Vertrauen.
Gerade in der Pandemie zeigt sich, wie Vertrauen wirkt: Vertrauen führt Menschen zusammen, es nimmt ihnen ihre Angst, macht sie stärker, als sie sich alleine fühlen würden. Es ist zulässig, oftmals berechtigt, Kritik an den Institutionen des Staates zu üben, aber verachten, sie gar bekämpfen zerstört Vertrauen fundamental. Ist es einmal verloren, ist es schwer, dieses friedenstiftende Gefühl zurückzuerlangen.
Auch im neuen Jahr wird die Bekämpfung des Virus eine Herausforderung sein. Es beginnt hoffnungsvoll – auch weil ein mächtiger Zerstörer von Vertrauen seinem Platz im Weißen Haus räumen muss. Es reicht nicht, den Schaden zu bedauern, der angerichtet wurde. Besser wäre es, sich 2021 um eine Renaissance der Kunst des Streitens zu bemühen. „Es gibt keinen, der für uns das Leben ordnet und organisiert“, sagt der renommierte Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Das können nur wir selbst.