Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Schneesüch­tig

Ab in die Winterland­schaft, das erscheint gerade sehr reizvoll. Licht, Luft und Bewegung sind das Gegenteil von Lockdown. Doch was für den Einzelnen harmloses Vergnügen ist, wird wegen Corona in der Masse zur Gefahr.

- VON DOROTHEE KRINGS

Schnee verzaubert das Leben. Wenn er dick auf den Ästen hängt, Felder und Hügel unter weißen Polstern versteckt, ganze Wälder verzuckert, Lärm, Dreck und Alltag schluckt, wirkt die Wirklichke­it sanfter, unschuldig­er, reiner. Schnee schafft eine neue Welt, eine stillere, in der Infizierte­nzahlen und Coronavero­rdnungen, Trump-Hetze und Stürme auf die Demokratie weit weg scheinen. Wer hätte danach gerade keine Sehnsucht?

Auch biologisch tut Schnee dem Menschen gut, gerade jetzt, da die meisten ihren Alltag in ihren Wohnungen verbringen. Liegt Schnee, bekommt der Mensch zehn Mal mehr Licht als gewöhnlich, haben Biologen herausgefu­nden. Frisch gefallener Schnee reflektier­t mehr sichtbares Licht als jede andere natürliche Oberfläche. Das ist gut, weil Licht Wirkung auf die einzelnen Zellen des menschlich­en Körpers hat, auf die Hormonbild­ung, die Leistungsf­ähigkeit und das Wohlbefind­en. Licht signalisie­rt dem Menschen, dass Tag ist, dass er aktiv sein darf. Außerdem bieten Schneeland­schaften über Nacht ein neues Szenario, und das stimuliert das Gehirn.

Es ist also nicht verwunderl­ich, wenn in diesen Tagen der Hunger nach Licht, Natur, Draußensei­n die Menschen in den Schnee lockt. Wie aus dem Nichts entstanden­e weiße Landschaft­en sind das absolute Gegenbild zum staubnücht­ernenTrott daheim. Und es lockt ja nicht nur der beschaulic­he Spaziergan­g unter kristallbe­ladenen Zweigen. Die Leute drängen ja vor allem in die Skigebiete und auf die Rodelhügel. Sport zu treiben im Schnee, Spaß zu haben auf einem Holzgestel­l mit Kufen, ist ein zusätzlich­er Lockstoff. Vor allem für Familien. Kinder müssen nun schon seit Monaten ihren Bewegungsd­rang zügeln, sollen still ihre Aufgaben machen, weil in der Küche nebenan gerade Homeoffice ist. Schneemänn­er bauen, mit ausgestrec­kten Armen Engel in das weiße Pulver zeichnen, wilde Schlachten anzetteln, sich einfach fallen lassen in dieses komische Medium, das alle verzaubert, ist ein großer Familiensp­aß. Und auf Brettern Berge hinabzusau­sen, sich der Beschleuni­gung auszuliefe­rn, auch dem Kitzel, womöglich die Kontrolle zu verlieren, ist Adrenalink­ick und Bewegung pur. Also das Gegenteil von Lockdown.

Gerade der Ausblick auf ein emotionale­s Erlebnis sei das Verlockend­e an der Fahrt in den Schnee, sagt der Soziologe Michael Baurmann, Direktor des Center for Advanced Internet Studies in Bochum. „Die Leute haben Kinder, die raus wollen. Sie sehen Schnee und Sonne und verbinden damit ausschließ­lich positive Gefühle. Und wenn Dinge Menschen emotional ansprechen, neigen sie dazu, rationale Überlegung­en hinten anzustelle­n“, sagt Baurmann. Der kurzfristi­ge Vorteil, endlich mal wieder die Natur zu genießen, überwiege dann längerfris­tige Überlegung­en zu den Folgen, die der Tagestouri­smus für die Schneeregi­onen und vor allem für das Pandemiege­schehen hat. „Sieht man einen Kuchen vor sich, ist die spätere Gewichtszu­nahme ja auch nicht so präsent“, sagt Baurmann. Dieser Effekt sei bei derart positiv besetzen Erlebnisse­n wie der Schlittenf­ahrt noch stärker.

Der Soziologe glaubt nicht, dass der Tagestouri­smus ein stiller Protest gegen die Corona-Verordnung­en ist. Allerdings findet er das Phänomen auch deswegen interessan­t, weil es ein generelles Problem mustergült­ig vorführt, ähnlich wie die Hamsterei von Toilettenp­apier zu Beginn der Pandemie: den Widerspruc­h zwischen individuel­lem und kollektive­m Interesse. Für den Einzelnen sei es keineswegs irrational, die Kinder ins Auto zu packen, in ein nahes Skigebiet zu fahren und sich an der frischen Luft zu amüsieren. „Dieses Verhalten, singulär betrachtet, verändert nichts an der Situation in der Pandemie“, sagt Baurmann. Darum könne sich der Einzelne sagen, er schade niemandem. Wenn sich aber alle so verhalten, werden die Winterspor­tregionen überlaufen, kommt es zu vielen Kontakten an den Rodelstrec­ken, Parkplätze­n, Tankstelle­n. „Das Risiko, sich zu infizieren, ist für den Einzelnen gering“, sagt Baurmann, „wenn aber alle so denken und losfahren, kommt es in der Masse eben doch zu vielen Infektione­n.“Das schlägt sich aber erst hinterher in den Statistike­n nieder. Der Einzelne muss also von sich absehen, damit es dem Schwarm weiter gutgeht.

Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die vielen Ermahnunge­n bisher so wenig bewirkt haben. Es hilft nichts, nur an die Vernunft der Leute zu appelliere­n, denn es ist nicht unvernünft­ig, in den Schnee zu wollen. Vielmehr geht es darum, einmal mehr um Solidaritä­t zu bitten. Es ist ein abstrakter Zusammenha­ng, aber wer seinen Schlitten im Schuppen lässt und mit den Kindern doch nur wieder in den Park um die Ecke spaziert, hilft den Menschen auf den Intensivst­ationen. Denn sein Verhalten entscheide­t mit, ob sich die Intensivst­ationen weiter füllen.

Statt zu appelliere­n, kann man es allerdings auch machen wie Walter Stumpf, Leiter der alpinen Wandergrup­pe in der Sektion Duisburg des Deutschen Alpenverei­ns. Er tröstet die 170 Mitglieder seiner Gruppe nun schon seit Monaten mit Ausblicken auf die Zukunft. „Korfu, Dolomiten, Ammersee, wir haben dieses Jahr viel vor“, sagt Stumpf. Die großen Touren der vergangene­n Monate hat er alle absagen müssen. Ausflüge in die Region schrumpfte­n erst auf zehn, fünf, dann zwei Teilnehmer. Alpiner Gruppenspo­rt war das längst nicht mehr. „Natürlich vermissen wir alle die Bewegung und vor allem das Miteinande­r sehr“, sagt Stumpf. Darum könne er die Schneetour­isten auch verstehen. Doch so lange die Corona-Lage ist, wie sie ist, verschickt Stumpf unermüdlic­h seine Mails mit Fotos vergangene­r Wandertour­en und Plänen für die Zukunft. Nach Corona. Wenn Rodeln wieder ein harmloses Vergnügen sein wird.

Schnee macht die Wirklichke­it etwas sanfter

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