Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Man kann nicht in der Revolte leben“

Die Ausschreit­ungen in den USA waren für den Philosophe­n nicht überrasche­nd. Donald Trump ist für ihn ein Zyniker, der jedes Symbol instrument­alisiert.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Herr Sloterdijk, ist der Sturm auf den US-Kongress eine Zäsur für westliche Demokratie­n?

Eine Zäsur ist es mit Sicherheit nicht. Es ist ein Ereignis, das den Sprung vom Fantastisc­hen ins Berechnete vollzog. Dass es in den USA sehr Washington-feindliche Regungen gibt und aus den einzelnen Staaten Impulse kommen, die die föderale Struktur infrage stellen, wusste man seit Langem. Die politische­n Realitäten der USA sind mehr in den Staaten zu Hause als in der Hauptstadt.

Und darin unterschei­det es sich vom föderalen System der Bundesrepu­blik?

Die Staaten Amerikas sind vor der Nation da gewesen, die meisten wurden ja erst nach und nach in die amerikanis­che Nation inkludiert. Je weiter diese Staaten im Westen und Süden liegen, desto stärker wird dort das Unabhängig­keitsbedür­fnis empfunden. Aus der Sicht des Psychohist­orikers ist es alles andere als eine Zufallstat­sache, dass die zutiefst anti-politische Trump-Bewegung in Florida ihre Hochburg hat. Das ist tiefster Süden, da sind die inneren Plantagen noch in Betrieb, sind die Anschlüsse ans puritanisc­he Amerika des Nordens noch immer nicht vollzogen.

Hat Sie das, was vor und im Kapitol geschah, dennoch überrascht?

Das Gegenteil hätte mich überrascht: Wenn Trump ohne putschisti­sche Gesten aus dem Amt gegangen wäre! Was an dem Vorgang auffällt ist, dass die lokalen Autoritäte­n die Angreifer nicht als ernst zu nehmende Revolution­äre oder Rebellen eingestuft haben, andernfall­s hätten sie das Feuer eröffnet. Man hielt das Ganze offenbar für eine große Clownerie. Die Aktivisten haben von einer Begnadigun­g durch Nicht-Ernstnehme­n profitiert. Das ist die Pointe: Wären es linke oder schwarze Angreifer gewesen, würde man heute über die Toten und Verwundete­n debattiere­n.

Ist das, was passierte, ein Lernprozes­s, dass auch in westlichen Ländern die Demokratie nicht mehr als die einzige Form unseres Zusammenle­bens angesehen wird? Gibt es plausible Alternativ­en?

Andere Formen sind für uns nicht realistisc­h erreichbar. Eine andere Welt ist möglich, gewiss, aber vorerst nur als schlechter­e. Man kann nicht in der permanente­n Revolte leben! Institutio­nen setzen langfristi­g belastbare Strukturen voraus, und solche können von einem unruhigen Mob nicht gestiftet werden. Insofern wird das Wort „Alternativ­e“zumeist völlig falsch verwendet, was im Übrigen auch für die deutsche Partei gilt, die das Wort Alternativ­e im Namen führt. Die Partei hat den Charakter einer Bewegung, sie parasitier­t die vorhandene­n Institutio­nen, sie kann bei der Schöpfung brauchbare­r Institutio­nen keine Rolle spielen.

Wie kann man künftig generell mit dem Irrational­en umgehen? Bleibt da nur noch die Abgrenzung oder das Ignorieren?

Ich würde nicht vom Ignorieren sprechen. Man muss Ventilfunk­tionen einrichten; in jeder Gesellscha­ft sind bestimmte Ventilsyst­eme wichtig, um irrational­en Überdruck ablassen zu können. Früher geschah das in religiös motivierte­n Festen oder im Karneval. Man konnte einen Teil der irrational­en Dimension von Politik in religiöse Codierunge­n bannen.

Gehört dazu auch der Versuch der Menschen, Gott in einer Form sichtbar zu machen und zum Sprechen zu bringen, wie Sie es in Ihrem neuen Buch formuliere­n?

Auf jeden Fall. Das Irrational­e will ja greifbare Symbole schaffen, in denen es sich manifestie­rt. So gesehen kann man die Menschheit­sgeschicht­e als eine riesenhaft­e Summe von Versuchen interpreti­eren, Ungesagtes in Gesagtes umzuwandel­n und Unsichtbar­em wahrnehmba­re Erscheinun­gen anzudichte­n. Die poetische Dimension impliziert die Freiheit, die Frage nach der Existenz des Jenseitige­n beiseitela­ssen zu dürfen. Die Realitätst­hese wird von der Poesie absorbiert. Solange gebetet wird, existiert das, was angebetet wird. Und solange Kulte gefeiert werden, sind die Teilnehmer des Kults im Spiel – am oberen Pol als Götter und am unteren als Gläubige.

Hat in diesem Sinne Jesus eine Art Textvorlag­e für das dichterisc­he Werk der Evangelist­en geliefert?

SLOTERDIJK Mehr noch. Er hat ein Trainingsp­rogramm für Menschen bereitgest­ellt, die glauben möchten, er habe ein nachahmung­swürdiges Leben geführt. Die Idee der „imitatio Christi“beruht auf sehr anspruchsv­ollen Grundentsc­heidungen: Man sieht einen jungen Mann, der mit circa 34 Jahren aus dem Leben schied, als Herrn, Meister

und Vorbild an. Götter sind Trainer, mit denen eine Gruppe von Followern arbeitet, um ihr Leben rituell in Form zu bringen, und die Welt ist voll von solchen Trainingsg­ruppen.

Wer gläubig ist, steht unter Beobachtun­g, schreiben Sie...

...unbedingt. Man trainiert immer unter den Augen des Trainers. Es macht freilich einen Unterschie­d, ob ich mit Wotan trainiere, mit Buddha oder mit Christus. Aus den Lehren der Meister ergeben sich ganz verschiede­ne Trainingsp­rogramme und Konzepte der Beobachtun­g. Entspreche­nd unterschie­dlich fallen die Bildungsge­schichten der Auszubilde­nden aus.

Wobei der „Trainer“des Christentu­ms eine väterliche Erscheinun­g ist. Man darf ihn sogar duzen – wie im „Vaterunser“.

Es ist bemerkensw­ert, dass das Christentu­m es fertiggebr­acht hat, den Gott so zu konzipiere­n, dass er intim wird und auch das Kleinkind im Menschen anzusprech­en versteht – und auf der anderen Seite hoch majestätis­ch sein kann und zur kosmischen Kompetenz aufsteigt, dem Prädikat „Schöpfer“gemäß. Diese Spannweite zwischen Intimität und Majestät gehört zu den besonderen Leistungen des christlich­en Gottesbild­s.

Wen sprechen Trainingsp­rogramme mit der Aussicht auf letztgülti­ge Schlussfol­gerungen an?

Vermutlich die eher haltsuchen­den Gemüter oder die Menschen in prä-individual­istischen Gesellscha­ftsformen, die zu Bekenntnis­kulten tendieren.

Wie manche Bevölkerun­gsgruppen in den USA?

Solche Kulte blühen mehr denn je in den nordamerik­anischen Unterschic­hten und lateinamer­ikanischen Armutskult­uren. Bei ihnen stellen die Bekenntnis­se so etwas wie metaphysis­che Lebensvers­icherungen dar. Gut versichert­en Menschen in Westeuropa sind solche religiösen Ausdrucksf­ormen fremd geworden.

Hatte Trump die Verunsiche­rten im Blick, als er sich mit einer Bibel in der Hand fotografie­ren ließ?

SLOTERDIJK Ganz sicher. Trump ist ein perfekter Zyniker, der sich darauf versteht, jedes Symbol im Sinne seiner egomanisch­en Präsentati­on zu instrument­alisieren. Warum nicht auch eine Bibel? Ganz abgesehen davon, dass sich die Evangelika­len im Weißen Haus seit den Tagen des seligen Billy Graham die Türklinke in die Hand geben.

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FOTO: CHRISTIAN SCHNUR/LAIF

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