Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Ein Fluss wird gebändigt
Es gibt kein anderes Land auf der Welt, dessen Wohl so sehr von einem einzigen Fluss abhängt, wie Ägypten. Mit der Inbetriebnahme des Hochdamms bei Assuan vor 50 Jahren gelang es, das Wasser des Nils zu lenken.
FRANKFURT (epd) Seit Anbeginn der Geschichte brachte der Nil jedes Jahr nach den Monsunregenfällen im Sommer gewaltige Wassermassen aus dem Hochland Äthiopiens nach Ägypten. Dank der Nilschwemme konnten die Bauern ihre Felder bestellen. „Bei zwölf Ellen Wasserstand entsteht Hungersnot, bei 13 Ellen ist noch Mangel, 14 Ellen verschaffen Heiterkeit, 15 Wohlstand, 16 Überfluss“, notierte bereits Plinius der Ältere vor knapp 2000 Jahren. Kaum ein anderes Land weltweit dürfte über die Jahrhunderte so abhängig vom Verhalten eines Flusses gewesen sein. Erst der Bau des Hochdamms bei Assuan, der im Januar 1971 eröffnet wurde, bändigte den längsten Strom der Welt und brachte den Menschen in Ägypten Planungssicherheit.
Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Universität Mainz, stand selbst schon mehrere Male auf der Krone des fast vier Kilometer langen Damms. Südlich des gewaltigen Betonrings ist der Nil auf 500 Kilometer Länge zum gewaltigen Nassersee aufgestaut – bis weit über die Grenze zum Nachbarland Sudan hinaus. Trotz massiver Kritik an den ökologischen Folgen sieht Meyer das milliardenschwere Projekt im Rückblick positiv: „Die Ägypter können sich gratulieren,“sagt er. Die Idee, die Nilfluten aufzustauen, um das Wasser gleichmäßiger über das Jahr zu verteilen, ist alt: Schon die britischen Kolonialherren errichteten südlich von Assuan einen ersten Damm, der allerdings zu niedrig war, um zerstörerische Überschwemmungen zu verhindern oder genug Wasser für Dürrejahre zu speichern. Nach dem Zweiten Weltkrieg legten deutsche Konzerne den Ägyptern Pläne für einen Hochdamm mit Wasserkraftwerk vor. In Kairo hatten zuvor Offiziere um den charismatischen Gamal Abdel Nasser den korrupten König aus dem Amt geputscht und damit begonnen, ihr rückständiges Land zu modernisieren.
„Es zeigte sich, dass kaum je zuvor ein Staatsmann um ein Wirtschaftsprojekt so hoch gepokert hat wie Nasser um Assuan“, schrieb das Nachrichtenmagazin „Spiegel“1960, als das Damm-Projekt mitten im Kalten Krieg zu einem geopolitischen Krimi geworden war. Denn Nassers selbstbewusste Außenpolitik hatte in den westlichen Hauptstädten zu wachsendem Ärger geführt. Als Reaktion auf die diplomatische Anerkennung der Volksrepublik China durch Ägypten verhinderte die US-Regierung schließlich die versprochenen Weltbank-Kredite für den Assuan-Damm.
Um an das nötige Geld zu gelangen, ließ Nasser daraufhin den Suez-Kanal verstaatlichen. Damit provozierte er eine militärische Intervention Großbritanniens, Frankreichs und Israels, die für die Angreifer zu einem politischen Fiasko wurde. Schließlich wandte sich Ägypten mit der Bitte um Hilfe an die Sowjetunion, die nicht nur finanziell in die Bresche sprang. Auch über 2000 Ingenieure
und Facharbeiter wurden an den Nil entsandt. „Die Sowjetunion hat die Chance gesehen, Ägypten als blockfreien Staat auf die sozialistische Seite hinüberzuziehen“, sagt Nahost-Kenner Meyer.
Während der zehnjährigen Bauzeit verloren rund 100.000 Menschen, mehrheitlich Angehörige des Volks der Nubier, ihre Heimat im Niltal und wurden umgesiedelt. Auch zahlreiche Altertümer versanken in den ansteigenden Fluten des Nasser-Stausees. Einige Monumente konnten in einer bis dahin beispiellosen internationalen Rettungsaktion für die Nachwelt bewahrt werden. So wurden die spektakulären Tempelanlagen von Abu Simbel in große Blöcke zersägt und mitsamt eines Teils der umliegenden Felsen an einen höher gelegenen Standort versetzt.
Mit der Inbetriebnahme des Assuan-Staudamms kurz nach Nassers Tod verbanden die Ägypter 1971 die Hoffnung auf Elektrizität für ihre Industrie, mehrere Ernten im Jahr und nicht zuletzt darauf, mit dem im Nasser-See gespeicherten Wasser neues Ackerland zu gewinnen. Eine Abfolge „magerer Jahre“, wie sie schon in der Bibel beschrieben werden, sollte es nie wieder geben. „Assuan ist das Symbol für die echte Befreiung des ägyptischen Volkes“, jubelte ein sowjetischer Dokumentarfilmer über die Eröffnungszeremonie.
Bald wurde der Stolz über die erfolgreiche Fertigstellung des Damms von Sorgen überschattet. Kritiker bemängelten, der fruchtbare Nilschlamm erreiche die Felder nicht mehr, sie verwiesen auf Erosionsschäden im Nildelta und die zunehmende Versalzung der Böden. Der aus Ägypten stammende Geografieprofessor Fouad Ibrahim legte sogar nahe, den Damm wieder abzureißen: „Versucht man Bilanz zu ziehen, so erkennt man zwangsläufig, dass es sich um eine Fehlplanung handelt.“
Der Mainzer Nahost-Experte Günter Meyer hält solche Kritik für maßlos und die dem Nilschlamm zugeschriebene Bedeutung für übertrieben. „Das Argument, der Assuan-Damm sei verantwortlich für den zunehmenden Düngerbedarf, ist schlicht und einfach Unsinn“, sagt er. „So enorme Steigerungen bei den Hektar-Erträgen wären ohne Kunstdünger unmöglich.“Und nicht der Dammbau, sondern lange Zeit unterlassene Drainage-Maßnahmen hätten die Versalzung der Böden ausgelöst. Anfängliche Versäumnisse seien später nachgeholt worden.
Fest stehe hingegen, dass Ägyptens Bevölkerung, die sich seit dem Dammbau verdreifacht hat, seither von Hungersnöten und Extrem-Hochwasser verschont geblieben sei. „Erst im vergangenen Sommer kam es im Sudan zu den stärksten Überschwemmungen seit Jahrzehnten“, sagt Meyer. „Mehr als 100 Menschen verloren ihr Leben, die Siedlungen von fast 900.000 Menschen wurden überflutet. Ohne den Damm hätte das extreme Hochwasser in Ägypten katastrophale Konsequenzen im engen Niltal gehabt.“