Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Die Schätze der Klassik
Ohne Gebühr, Spende erbeten: Musikfreunde auf der Suche nach Noten und Aufnahmen werden beim Download-Projekt IMSLP königlich bedient. Hier macht Stöbern Spaß.
Alles begann mit einer Idee, die an den Schranken rüttelte und Umsturz versprach. Sie entstammte dem kühnen Kopf von Edward W. Guo, einem jungen Mann, der in Boston am New England Conservatory of Music studierte. Er machte leidenschaftlich gern Musik, interessierte sich aber auch für ältere Noten und dachte an die vielen alten Exemplare, die in irgendwelchen Archiven schwer zugänglich schlummerten und nicht mehr dem Copyright unterlagen. Sollte man sie nicht der Allgemeinheit per Internet zugänglich machen?
Natürlich werden in solchen Momenten Spezialisten fürs Urheberrecht hellwach. Doch Guo war unbeirrt, verbündete sich seinerseits mit kundigen Juristen und gründete 2006 eine Notendatenbank, die seitdem unter dem Kurztitel IMSLP geführt wird. Das International Music Score Library Project (zu deutsch: Internationales Notenbibliothek-Projekt) heißt seit Juli 2008 im Untertitel Petrucci Music Library; es ist Ottaviano Petrucci gewidmet, dem italienischen Buchdrucker und ersten bedeutenden Musikverleger.
IMSLP ist ein Projekt für eine virtuelle Online-Bibliothek gemeinfreier Musiknoten (Free Sheet Music), und zwar überaus erfolgreich: Seit 2006 wurden bis Dezember 2019 über 152.000 Werke (495.000 Notendateien) von über 18.000 Komponisten
hochgeladen. Wie die Organisatoren vermutlich nicht zu Unrecht mitteilen, ist das Projekt die größte Online-Sammlung freier und kostenloser Musiknoten. Es enthält zudem 59.000 Aufnahmen.
Wie funktioniert das Prinzip? Man kann über eine Suchfrage etwa bei Google direkt zur Komposition gehen, von der man Noten betrachten, anhören, runterladen und ausdrucken möchte. Nehmen wir einmal als Beispiel Claude Debussys herrliches Werk „Syrinx“für Flöte solo. Man googelt dann: „Debussy Syrinx IMSLP“– und schon ist man da. Nun findet man zunächst drei Tonaufnahmen, darunter zwei von Jean-Pierre Rampal, mit ziemlich unterschiedlichen Tempi. Die spätere und ruhigere ist, wie so oft, auch die schönere. Darunter dann eine reiche Auswahl von Noten aus unterschiedlicher Herkunft – eine sogar aus China. Akkurat bis ins Letzte!
So geht das bei allen Komponisten, wobei man natürlich auch ohne spezielle Interessen einfach über die Startseite bei IMSLP eintreten kann. Vielleicht heute mal bei den verschiedenen Instrumenten suchen? Hoppla, da gibt es ja Noten für das Sarrusophon (das war ein Doppelrohrblatt-Instrument für das französische Militär, jedoch durchschlagender als Oboe und Fagott): ein „Septett“für Holzbläser von Kemble Stout. Wer auf Stöber-Tour geht, findet dieses exquisite Instrument auch bei Paul Dukas („Zauberlehrling“), Maurice Ravel („Rapsodie espagnole“) oder Igor Strawinsky („Threni“). Oder man sucht nach Komponisten und klickt sich etwa den ganzen Johann Sebastian Bach an, von A (Choralvorspiel „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“BWV 649) bis Z (Kantate „Zerreißet, zersprenget, zertrümmert die Gruft“, BWV
205). Dort findet man auch Links auf Handschriften-Faksimiles.
2015 führte Guo ein Bezahlsystem auf Subskriptionsbasis ein, um Förderer zur finanziellen Unterstützung zu bitten; für sie ist die Download-Schleife ein bisschen kürzer. Für normale Kunden ist das Herunterladen von PDF-Dateien erst nach einer Wartezeit von 15 Sekunden möglich, was nun auch nicht die Welt ist. Diese Wartezeit soll laut Guo den Nutzer zum Nachdenken darüber anregen, dass der Betrieb eines kostenlosen Angebots Geld kostet und zu wenig Spenden eingehen, um den Bestand der auf IMSLP verfügbaren Noten zu sichern.
Das IMSLP enthält hauptsächlich Scans alter Notenausgaben, die nicht mehr dem Copyright unterliegen, anders als das Mutopia-Projekt, das nur neu am Computer gesetzte Noten enthält. In einzelnen Fällen kann das Copyright oder Urheberrecht nur in den USA oder in Kanada ausgelaufen sein, nicht jedoch in anderen Ländern. Jedenfalls ist das Projekt auch aus musikwissenschaftlicher Sicht von Interesse, da oft mehrere unterschiedliche, teils historische Ausgaben eines Werkes zur Verfügung stehen.
Neben gemeinfreien Noten sind auch solche von zeitgenössischen Komponisten zugelassen, die unter einer Creative-Commons-Lizenz stehen. Musikalischer Gedankenaustausch in den Diskussionsseiten zu den einzelnen Musikstücken ist explizit erwünscht.
Im Oktober 2007 schloss der Gründer des Projekts die Website vorläufig, nachdem er eine Unterlassungsaufforderung der Universal Edition Wien erhalten hatte, die ihr Urheberrecht verletzt sah. Seit dem 30. Juni 2008 wird das Projekt in Trägerschaft von Project Petrucci LLC mit Sitz in Wilmington, Delaware fortgesetzt. Für Musikfreunde war das eine segensreiche Neuigkeit.