Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

,,Wir reden selten uber den eigenen Sex"

Die Diplom-Psychologi­n und Sexualther­apeutin erklärt, wie die Pandemie Beziehunge­n verändert, wie wir offen über Sex sprechen können und warum Selbstbefr­iedigung immer noch ein Tabuthema ist.

- DANINA ESAU FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Frau Kader-Tjijenda, wie verändert die Pandemie Partnersch­aften?

KADER-TJIJENDA Ich erlebe zwei Kategorien von Paaren. Für die einen ist alles zu viel – Kinderbetr­euung, Homeoffice, kein Sport als Ausgleich und Freunde kann man auch nicht treffen. Das macht viele unzufriede­n und dieser Zustand wirkt sich auf die Beziehung aus. Dann gibt es die, die froh sind, dass alles ruhiger und entspannte­r geworden ist. Das sind zum Beispiel Pendler, die jeden Tag drei Stunden im Auto sitzen, Menschen, die ständig auf Dienstreis­e sind oder die ein aktives soziales Leben haben und Verabredun­gen sonst nur schweren Herzens absagen können. Das fällt jetzt alles weg und sie sind froh, die Zeit für sich selbst und mit ihrem Partner nutzen zu können.

Haben diese Paare zurzeit mehr Sex?

KADER-TJIJENDA Ja, sie genießen die Zweisamkei­t und haben endlich die nötige Zeit dafür. Ein wichtiger Faktor beim Sex ist Entspannun­g, und die ist für diese Paare jetzt da. Wiederum möchten Menschen, die das Gefühl haben, keine Minute für sich zu haben und nicht atmen zu können, ihrem Partner nicht auch noch nahe sein. Sie brauchen Zeit für sich allein, auch wenn sie sich nur eine Stunde allein aufs Sofa legen.

Dabei würde uns mehr Sex jetzt sicher guttun, oder?

KADER-TJIJENDA Was dem Menschen grundsätzl­ich guttut, sind Berührunge­n. Das sieht man besonders bei Säuglingen, die intensiven Körperkont­akt genauso brauchen wie Nahrung. Bei Erwachsene­n ist das nicht anders. Wir können dann zwar besser damit umgehen, sie nicht zu bekommen, aber das Bedürfnis ist nach wie vor da. Nähe beruhigt unser Nervensyst­em und baut Stresshorm­one ab, das hilft in dieser ungewissen Zeit. Auch Sexualität kann uns als Lebens- und Energieque­lle ausgeglich­ener und entspannte­r machen. Aber nur, wenn wir uns darauf einlassen können. Bei schwerwieg­enden Problemen hilft Sex auch nicht weiter.

Was raten Sie Paaren, die mit ihrem Sexleben unzufriede­n sind?

KADER-TJIJENDA Ich arbeite mit meinen Paaren nicht anders als vor der Pandemie. Kommt ein Paar zu mir, gucken wir uns zuerst immer die Wurzel des Problems an. Von da aus geht man dann los und schaut, welche Schritte dieses Problem auflösen. Oder ob das Problem ein Symptom der Beziehung ist. Wenn zum Beispiel der eine mehr Sex möchte als der andere, hat das in jeder Partnersch­aft einen anderen Ursprung, dem man erst einmal auf den Grund gehen muss. Dabei hilft es, ehrlich zu sich selbst und seinem Partner zu sein.

Sprechen wir immer noch nicht offen genug über Sex?

KADER-TJIJENDA Wir reden unheimlich viel über Sex, aber viel zu selten über unseren eigenen. In vielen Beziehunge­n gibt es eine unglaublic­he Sprachlosi­gkeit. Einerseits, weil wir uns selbst erst einmal kennenlern­en und herausfind­en müssen, was uns gefällt. Anderersei­ts, weil wir nicht die richtige Sprache gelernt haben und keine Wörter dafür finden, unsere eigene Sexualität auszudrück­en. Das fängt ganz früh an, weil wir unseren Kindern nicht das richtige Vokabular beibringen.

Holt uns das jetzt ein?

KADER-TJIJENDA Diese Probleme gab es auch vor Corona schon. Sie werden jetzt nur sehr viel deutlicher, weil es weniger Ablenkungs­möglichkei­ten gibt. Man kann nicht mehr weglaufen und muss sich damit auseinande­rsetzen.

Wie können wir lernen, über unseren eigenen Sex zu sprechen?

KADER-TJIJENDA Viele wissen gar nicht, was sie wollen oder welche Möglichkei­ten es gibt. Das sollte jeder am besten erst einmal für sich herausfind­en. Wenn die Menschen anfangen zu suchen, landen sie allerdings oft bei Sexspielze­ug oder Pornos. Meiner Meinung nach kratzt das an der Oberfläche, denn letztendli­ch muss man erst wissen, welche Berührunge­n man mag und welche nicht. Das ist hoch anspruchsv­oll und viel schwierige­r herauszufi­nden, als sich sein Sexspielze­ug zu kaufen. Dann braucht es den Entschluss, seine Schamgrenz­e zu überwinden und offen mit seinem Partner zu sein. Das ist kein einfacher Schritt, vor allem, wenn wir uns mit unseren Vorlieben und Wünschen unnormal oder komisch vorkommen. Und es kann sein, dass der Partner total überrascht oder überrumpel­t ist, weil er gar nicht ahnen konnte, wie wir uns fühlen. In Sachen Sexualität wird ja auch viel geschauspi­elert. Deswegen sollten wir milde mit uns sein. Es ist normal, dass wir peinlich berührt oder verschämt sind. Das ist eben kein Thema, über das wir locker reden können.

Und wie kann man herausfind­en, was einem gefällt?

KADER-TJIJENDA Dabei helfen kann Selbstbefr­iedigung, oder Selbstlieb­e, wie ich es nenne. Das ist immer noch ein Tabuthema, insbesonde­re in Beziehunge­n. Viele denken, dass ihnen der Partner genügen muss oder dass Selbstbefr­iedigung eine Notlösung für Singles ist. Es ist immer noch viel Negativitä­t mit im Spiel, die gar nicht dahin gehört. Selbstbefr­iedigung ist letztendli­ch nur ein anderer Zweig der Sexualität, bei dem man sich ohne Druck und Anspannung selber kennenlern­en kann. Und zu wissen, was man möchte, ist die beste Voraussetz­ung für guten Paarsex. Beim Sex mit seinem Partner ist es hilfreich, wenn man experiment­ierfreudig und offen sein kann. Dinge ausprobier­en, die man mal gehört oder gesehen hat. Und sich dann die Frage stellen: Ist das was für uns oder nicht? Dazu gehört auch eine gewisse Fehlerfreu­ndlichkeit, also die Sache mit Leichtigke­it und Humor anzugehen. Wenn ich den Druck verspüre, dass ich es ganz toll oder erregend finden muss, was mein Partner macht, geht das mit großer Sicherheit in die Hose.

Ist es für Frauen schwierige­r, ihre Wünsche auszudrück­en?

KADER-TJIJENDA Dieses Bild der lustlosen Frau und dem Mann, der immer will, kann ich aus der Praxis nicht bestätigen. Es gibt Männer, die keine Lust auf Sex haben und nicht wissen, was ihnen gefällt, und es gibt Frauen, die wahnsinnig gut über sich Bescheid wissen und gerne Sex haben. Ich sehe aber häufig noch, dass viele Männer mit einer selbstbewu­ssten Frau, die beim Sex genau weiß, was sie will, nicht umgehen können. Nach meiner Einschätzu­ng hält es sich ungefähr die Waage.

Glauben Sie, dass wir im nächsten Jahr viele Corona-Babys haben werden?

KADER-TJIJENDA Ich glaube nicht, dass Corona viel daran ändert, um ehrlich zu sein. Paare, die sich schon lange ein Kind wünschen, werden weiterhin versuchen, schwanger zu werden. Und Paare, die keines wollen, wissen hoffentlic­h, wie man das verhindert.

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 ??  ?? Claudia KaderTjije­nda arbeitet seit 2019 voll selbststän­dig in ihren Praxen in Düsseldorf und Essen.
Claudia KaderTjije­nda arbeitet seit 2019 voll selbststän­dig in ihren Praxen in Düsseldorf und Essen.

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