Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Schlummern­de Idylle unter Schneedeck­e

Ein nächtliche­r Spaziergan­g durch Radevormwa­ld während der Ausgangssp­erre. Nach 22 Uhr ist die Innenstadt wie ausgestorb­en.

- VON FLORA TREIBER (TEXT) UND JÜRGEN MOLL (FOTOS)

Die Uhr des Busbahnhof­es zeigt 22 Uhr an. Ich höre den Schnee auf die Kapuze meines Daunenmant­els rascheln, das regelmäßig­e Tonsignal der großen Kreuzung durchbrich­t die Stille. Klack, klack, klack macht die Blindenamp­el, sonst ist es ruhig im Zentrum von Radevormwa­ld. Schnee verändert die Geräuschku­lisse. Der Schall bleibt in den endlosen Kristallen des Schnees hängen, alles klingt dumpf. Ich kenne meine Heimatstad­t bei Schnee, aber die Ausgangssp­erre von 22 bis 5 Uhr ist neu. Die Ruhe wirkt jetzt weniger idyllisch.

Die Scholle des beschaulic­hen Landlebens, wie ich Radevormwa­ld immer empfunden habe, hat sich durch die Pandemie verändert. Einige wenige Autos fahren über die Bundesstra­ße Richtung Ortsausgan­g, die Stadt ist zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Durchfahrt. Angekommen sind alle, die ihre Nacht in Radevormwa­ld verbringen wollen. Die Busse verlassen die Stadt ohne Fahrgäste.

Der Schnee stöbert über die leeren Straßen, der Wind lässt die Fahnenstan­gen an der Schlossmac­hergalerie klappern. Auf dem menschenle­eren Parkplatz entdecke ich einen großen schwarzen Labrador. Mit der Nase auf dem Boden erschnuppe­rt er sich einen Meter nach dem anderen. Seine Herrchen stapfen einige Meter hinter ihm durch den Schnee. Für Sammy ist die leere Innenstadt jetzt wie ein großes Schneefeld, auf dem er sich frei bewegen kann. Die Ausgangssp­erre scheint ihm zu gefallen. In anderen Nächten muss er an der Leine geführt werden und auf Autos und Menschen achten. Heute genießt er Weite und Freiheit.

Dass unsere Bewegungsf­reiheit mal so stark eingeschrä­nkt wird, um uns und die Gesellscha­ft, in der wir leben, vor einem Virus zu schützen, wäre noch vor einem Jahr undenkbar gewesen. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Dass die Ausgangssp­erre gepaart mit dem dunklen Januar auf die Stimmung drückt, merke ich auch heute Abend. Nicht nur die Straßen in Radevormwa­ld sind leer, auch in den Wohnungen innerhalb des Zentrums ist es still geworden. Die meisten Fenster sind dunkel, vereinzelt flackert das grelle Licht eines Fernsehers hinter zugezogene­n Gardinen auf. Die meisten Menschen scheinen schon zu schlafen. Auf dem Streifzug durch die Innenstadt blicke ich in kein Wohnzimmer, in dem gelacht, getanzt oder gelesen wird. Mich wundert das nicht, da ich selber jeden Abend früh ins Bett krabble und mich auf die Geborgenhe­it des eigenen Zuhauses freue.

Wir bleiben auf dem Marktplatz stehen und lauschen dem Schnee. Mein Kollege Jürgen Moll fotografie­rt die idyllische Szenerie, in der wir eigentlich über Volksfeste berichten sollten. Es ist schon zu lange her, dass wir uns ins Getümmel gemischt haben. Jetzt wirkt der Marktplatz wie eine schöne, aber leere Kulisse. Bühnenbild­er und Städte

brauchen Darsteller und Menschen, um mit Leben und Wärme erfüllt zu werden. Es ist mittlerwei­le fast 23 Uhr und außer wenigen Stadtbewoh­nern mit ihren treuen Begleitern auf vier Beinen begegnet uns niemand. Wir hören keine Autos mehr, keine Stimmen, irgendwo ein paar Straßen weiter das blecherne Kratzen einer Schneeschi­ppe.

Es schneit und schneit. Auf den leeren Straßen könnten wir Schneeenge­l zeichnen oder ein kleines Bob-Rennen veranstalt­en, niemand würde es merken. Aber wir durften die Ausgangssp­erre nur für diese Reportage brechen, nicht für ausgelasse­nes Winterverg­nügen.

Ich bin mittlerwei­le durchgefro­ren, und meine Wimperntus­che wurde von dem entgegenwe­henden Schnee endgültig aufgelöst. Zeit nach Hause zu fahren und die Tür hinter sich und der Ausgangssp­erre zu schließen, wie es anscheinen­d alle Radevormwa­lder tun. Normalerwe­ise hört man in der Innenstadt Stimmengew­irr aus den einigen wenigen Kneipen, sieht Menschen aus Pizzerien schlendern oder Jugendlich­e, die sich auf dem Weg zu einer Party ein Bier teilen. Das alles fehlt. Die Kleinstadt im Oberbergis­chen Kreis hat die Ausgangssp­erre akzeptiert und wartet geduldig auf Besserung und Lockerung.

Eine Streife des Ordnungsam­tes ist uns nicht begegnet, auch die Polizei ist nicht zu sehen. Ebenso scheint sich der Räumdienst an den Lockdown zu halten. Gut, dass mein Kollege mich souverän über die glatten Straßen nach Hause lenkt. Selbst im „Drive in“des beliebten Schnellres­taurants ist kein Betrieb mehr. Die Verführung­skünste von Pommes und Burger versagen gegen die Ausgangssp­erre.

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Eine nahezu menschenle­ere Innenstadt: Nur ein einsamer Gassi-Geher lief über den Marktplatz.
 ??  ?? Gearbeitet wird trotz Ausgangssp­erre: Ein Hausmeiste­rdienst befreit an der Kaiserstra­ße den Bürgerstei­g vom Neuschnee.
Gearbeitet wird trotz Ausgangssp­erre: Ein Hausmeiste­rdienst befreit an der Kaiserstra­ße den Bürgerstei­g vom Neuschnee.
 ??  ?? 22 Uhr am Busbahnhof in Radevormwa­ld: Es ist nichts mehr los. Die Busse haben die Stadt ohne Fahrgäste verlassen.
22 Uhr am Busbahnhof in Radevormwa­ld: Es ist nichts mehr los. Die Busse haben die Stadt ohne Fahrgäste verlassen.
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Der Blick am Samstag von der unteren Kaiserstra­ße in Richtung Marktplatz.

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