Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Schlummernde Idylle unter Schneedecke
Ein nächtlicher Spaziergang durch Radevormwald während der Ausgangssperre. Nach 22 Uhr ist die Innenstadt wie ausgestorben.
Die Uhr des Busbahnhofes zeigt 22 Uhr an. Ich höre den Schnee auf die Kapuze meines Daunenmantels rascheln, das regelmäßige Tonsignal der großen Kreuzung durchbricht die Stille. Klack, klack, klack macht die Blindenampel, sonst ist es ruhig im Zentrum von Radevormwald. Schnee verändert die Geräuschkulisse. Der Schall bleibt in den endlosen Kristallen des Schnees hängen, alles klingt dumpf. Ich kenne meine Heimatstadt bei Schnee, aber die Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr ist neu. Die Ruhe wirkt jetzt weniger idyllisch.
Die Scholle des beschaulichen Landlebens, wie ich Radevormwald immer empfunden habe, hat sich durch die Pandemie verändert. Einige wenige Autos fahren über die Bundesstraße Richtung Ortsausgang, die Stadt ist zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Durchfahrt. Angekommen sind alle, die ihre Nacht in Radevormwald verbringen wollen. Die Busse verlassen die Stadt ohne Fahrgäste.
Der Schnee stöbert über die leeren Straßen, der Wind lässt die Fahnenstangen an der Schlossmachergalerie klappern. Auf dem menschenleeren Parkplatz entdecke ich einen großen schwarzen Labrador. Mit der Nase auf dem Boden erschnuppert er sich einen Meter nach dem anderen. Seine Herrchen stapfen einige Meter hinter ihm durch den Schnee. Für Sammy ist die leere Innenstadt jetzt wie ein großes Schneefeld, auf dem er sich frei bewegen kann. Die Ausgangssperre scheint ihm zu gefallen. In anderen Nächten muss er an der Leine geführt werden und auf Autos und Menschen achten. Heute genießt er Weite und Freiheit.
Dass unsere Bewegungsfreiheit mal so stark eingeschränkt wird, um uns und die Gesellschaft, in der wir leben, vor einem Virus zu schützen, wäre noch vor einem Jahr undenkbar gewesen. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Dass die Ausgangssperre gepaart mit dem dunklen Januar auf die Stimmung drückt, merke ich auch heute Abend. Nicht nur die Straßen in Radevormwald sind leer, auch in den Wohnungen innerhalb des Zentrums ist es still geworden. Die meisten Fenster sind dunkel, vereinzelt flackert das grelle Licht eines Fernsehers hinter zugezogenen Gardinen auf. Die meisten Menschen scheinen schon zu schlafen. Auf dem Streifzug durch die Innenstadt blicke ich in kein Wohnzimmer, in dem gelacht, getanzt oder gelesen wird. Mich wundert das nicht, da ich selber jeden Abend früh ins Bett krabble und mich auf die Geborgenheit des eigenen Zuhauses freue.
Wir bleiben auf dem Marktplatz stehen und lauschen dem Schnee. Mein Kollege Jürgen Moll fotografiert die idyllische Szenerie, in der wir eigentlich über Volksfeste berichten sollten. Es ist schon zu lange her, dass wir uns ins Getümmel gemischt haben. Jetzt wirkt der Marktplatz wie eine schöne, aber leere Kulisse. Bühnenbilder und Städte
brauchen Darsteller und Menschen, um mit Leben und Wärme erfüllt zu werden. Es ist mittlerweile fast 23 Uhr und außer wenigen Stadtbewohnern mit ihren treuen Begleitern auf vier Beinen begegnet uns niemand. Wir hören keine Autos mehr, keine Stimmen, irgendwo ein paar Straßen weiter das blecherne Kratzen einer Schneeschippe.
Es schneit und schneit. Auf den leeren Straßen könnten wir Schneeengel zeichnen oder ein kleines Bob-Rennen veranstalten, niemand würde es merken. Aber wir durften die Ausgangssperre nur für diese Reportage brechen, nicht für ausgelassenes Wintervergnügen.
Ich bin mittlerweile durchgefroren, und meine Wimperntusche wurde von dem entgegenwehenden Schnee endgültig aufgelöst. Zeit nach Hause zu fahren und die Tür hinter sich und der Ausgangssperre zu schließen, wie es anscheinend alle Radevormwalder tun. Normalerweise hört man in der Innenstadt Stimmengewirr aus den einigen wenigen Kneipen, sieht Menschen aus Pizzerien schlendern oder Jugendliche, die sich auf dem Weg zu einer Party ein Bier teilen. Das alles fehlt. Die Kleinstadt im Oberbergischen Kreis hat die Ausgangssperre akzeptiert und wartet geduldig auf Besserung und Lockerung.
Eine Streife des Ordnungsamtes ist uns nicht begegnet, auch die Polizei ist nicht zu sehen. Ebenso scheint sich der Räumdienst an den Lockdown zu halten. Gut, dass mein Kollege mich souverän über die glatten Straßen nach Hause lenkt. Selbst im „Drive in“des beliebten Schnellrestaurants ist kein Betrieb mehr. Die Verführungskünste von Pommes und Burger versagen gegen die Ausgangssperre.