Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Die Ärmsten der Armen trifft es am härtesten“
Der Entwicklungsminister fordert mehr Mittel für die Versorgung der Welt mit Impfstoff – und hat eine klare Botschaft an Amazon.
Herr Müller, der designierte CDUChef Laschet gilt als Mann der Mitte. Heißt das für die CSU, mehr konservatives Profil zu zeigen, um mehr Wähler zu erreichen?
MÜLLER Entscheidend wird sein, wer die besseren wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepte für die Zukunft hat und wem die Menschen vertrauen. Denn man wird nicht für gestern gewählt, sondern für morgen. Dazu brauchen wir eine starke CSU mit Wirtschaftskompetenz und eine geschlossene CDU. Es war immer Teil unseres Erfolgs, die Breite dieser Unionsgemeinschaft zu zeigen.
Viele Millionen warten in Deutschland auf ihre Impfung, aber in Entwicklungsländern sieht es noch deprimierender aus. Was ist zu tun?
MÜLLER Wir müssen Covid-19 entschieden zu Hause in Deutschland bekämpfen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um eine weltweite Pandemie handelt, die die Ärmsten der Armen am härtesten trifft. Wir werden die Pandemie nur weltweit besiegen können oder gar nicht. Sonst kommt das Virus im nächsten Flieger zurück. Die weltweite Krisenreaktion bleibt noch weit hinter dem Notwendigen zurück. Es darf nicht passieren, dass Entwicklungs- und Schwellenländer zehn oder 20 Jahre in der Entwicklung zurückfallen.
Wie wichtig ist die Stabilisierung?
MÜLLER Sehr wichtig. Es geht nicht nur um Armut, Not und Hunger, die erstmals wieder massiv steigen. Es geht – beispielsweise in der Sahelzone – um die Gefahr, dass wegen der Corona-Krise staatliche Strukturen zusammenbrechen. Das kann zu unkontrollierten Flüchtlingsbewegungen führen. Viele werden sich dann zusätzlich zu den jetzt schon 80 Millionen Flüchtlingen auf den Weg machen. Die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels kommen noch hinzu. Und in dieser Situation fehlt dem Welternährungsprogramm Geld für dringend notwendige Soforthilfe in besonders betroffenen Regionen. Das ist ein Skandal und absolut kurzsichtig!
Wie sind die Impfperspektiven in der sogenannten Dritten Welt?
MÜLLER Dass Impfstoffe so schnell entwickelt wurden, ist ein toller Erfolg. Aber 14 Prozent der Weltbevölkerung haben 50 Prozent der bestellbaren Impfdosen. Die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer können bis Jahresende im Idealfall nur 20 Prozent ihrer Bevölkerung ein Impfangebot machen. Und selbst das Programm ist noch nicht ausreichend finanziert. Von den notwendigen 38 Milliarden US-Dollar für Impfstoffe und medizinische Ausrüstung wie Schnelltests fehlen noch 25 Milliarden. Angesichts von 1000 Milliarden für Wirtschaftshilfen in der EU muss das leistbar sein.
Worum geht es konkret?
MÜLLER Deutschland hat 600 Millionen Euro für die weltweite Impfstoffversorgung bereitgestellt und wird seinen Beitrag weiter ausbauen. Es ist sehr zu begrüßen, dass die USA jetzt vier Milliarden US-Dollar angekündigt haben. Auch Brüssel sollte ein Sofortprogramm über vier Milliarden auflegen und dabei die Europäische Investitionsbank einbeziehen. Und ich denke auch an private Geldgeber. Mein Appell richtet sich insbesondere an die CoronaKrisengewinner
wie Amazon, Facebook, Google: Engagiert euch für mehr Impfstoff für die Ärmsten!
Sind Impfstoff-Produktionen vor Ort ein gangbarer Weg?
MÜLLER Das gehört zweifellos dazu. Das Ziel ist, schnell in Europa zu impfen und parallel die Versorgung in Entwicklungsländern zu verbessern. Mit einer europäisch-afrikanischen Initiative können wir Produktionskapazitäten vor Ort aufbauen. Pharmaunternehmen könnten dazu Lizenzen vergeben, die Weltgesundheitsorganisation könnte zu einem Weltpandemie-Zentrum werden: Das Wissen muss weltweit geteilt werden. Voraussetzungen sehe ich in Südafrika, in Ghana oder im Senegal. Afrika verfügt über 350 pharmazeutische Unternehmen. Solche Produktionsstätten sind auch in unserem eigenen Interesse. Das Thema
Impfschutz ist ja nicht in einigen Monaten vorbei. Auf der Welt gibt es circa 40 weitere Viren mit Pandemie-Potenzial. Deshalb ist es höchste Zeit, an den Ursachen anzusetzen und das Zusammenleben von Mensch, Tier und Umwelt in einer neuen Verantwortung global zu gestalten und umzudenken: in Politik, Wirtschaft und Konsum.
Damit sind wir bei den Lieferketten. Bessere Produktionsbedingungen sind dennoch nicht in Sicht...
MÜLLER Das sah lange so aus. Aber jetzt sind wir zwischen den Ressorts ganz nah an einer Einigung.
Welche Betriebe sollen dabei sein?
MÜLLER Ich will den Schlussverhandlungen nicht vorgreifen. Wir brauchen eine Lösung, die den Belangen des Mittelstands gerecht wird. Wir alle sehen, dass wegen der
Corona-Krise viele Unternehmen in einer schwierigen Lage sind. Deswegen gehen wir mit Augenmaß vor: Kleine Firmen oder Handwerksbetriebe sind ausgenommen. Und es wird Übergangsfristen geben.
Das ist weit von dem entfernt, was Ihnen ursprünglich vorschwebte.
MÜLLER Wichtig ist, dass das Lieferkettengesetz nicht weiter blockiert wird, dass es jetzt kommt und eine Wirkung erzielt. Wichtig ist auch, dass wir parallel auf EU-Ebene vorankommen. Es kann nicht länger sein, dass wir etwa unsere Jeans in äthiopischen Betrieben fertigen lassen, die 15 Cent Stundenlohn zahlen und keine Kläranlage haben. Wir müssen endlich vom Reden zum Handeln kommen.