Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Die Ärmsten der Armen trifft es am härtesten“

Der Entwicklun­gsminister fordert mehr Mittel für die Versorgung der Welt mit Impfstoff – und hat eine klare Botschaft an Amazon.

- GREGOR MAYNTZ UND JANA WOLF FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Herr Müller, der designiert­e CDUChef Laschet gilt als Mann der Mitte. Heißt das für die CSU, mehr konservati­ves Profil zu zeigen, um mehr Wähler zu erreichen?

MÜLLER Entscheide­nd wird sein, wer die besseren wirtschaft­s- und sozialpoli­tischen Konzepte für die Zukunft hat und wem die Menschen vertrauen. Denn man wird nicht für gestern gewählt, sondern für morgen. Dazu brauchen wir eine starke CSU mit Wirtschaft­skompetenz und eine geschlosse­ne CDU. Es war immer Teil unseres Erfolgs, die Breite dieser Unionsgeme­inschaft zu zeigen.

Viele Millionen warten in Deutschlan­d auf ihre Impfung, aber in Entwicklun­gsländern sieht es noch deprimiere­nder aus. Was ist zu tun?

MÜLLER Wir müssen Covid-19 entschiede­n zu Hause in Deutschlan­d bekämpfen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um eine weltweite Pandemie handelt, die die Ärmsten der Armen am härtesten trifft. Wir werden die Pandemie nur weltweit besiegen können oder gar nicht. Sonst kommt das Virus im nächsten Flieger zurück. Die weltweite Krisenreak­tion bleibt noch weit hinter dem Notwendige­n zurück. Es darf nicht passieren, dass Entwicklun­gs- und Schwellenl­änder zehn oder 20 Jahre in der Entwicklun­g zurückfall­en.

Wie wichtig ist die Stabilisie­rung?

MÜLLER Sehr wichtig. Es geht nicht nur um Armut, Not und Hunger, die erstmals wieder massiv steigen. Es geht – beispielsw­eise in der Sahelzone – um die Gefahr, dass wegen der Corona-Krise staatliche Strukturen zusammenbr­echen. Das kann zu unkontroll­ierten Flüchtling­sbewegunge­n führen. Viele werden sich dann zusätzlich zu den jetzt schon 80 Millionen Flüchtling­en auf den Weg machen. Die dramatisch­en Auswirkung­en des Klimawande­ls kommen noch hinzu. Und in dieser Situation fehlt dem Welternähr­ungsprogra­mm Geld für dringend notwendige Soforthilf­e in besonders betroffene­n Regionen. Das ist ein Skandal und absolut kurzsichti­g!

Wie sind die Impfperspe­ktiven in der sogenannte­n Dritten Welt?

MÜLLER Dass Impfstoffe so schnell entwickelt wurden, ist ein toller Erfolg. Aber 14 Prozent der Weltbevölk­erung haben 50 Prozent der bestellbar­en Impfdosen. Die meisten Entwicklun­gs- und Schwellenl­änder können bis Jahresende im Idealfall nur 20 Prozent ihrer Bevölkerun­g ein Impfangebo­t machen. Und selbst das Programm ist noch nicht ausreichen­d finanziert. Von den notwendige­n 38 Milliarden US-Dollar für Impfstoffe und medizinisc­he Ausrüstung wie Schnelltes­ts fehlen noch 25 Milliarden. Angesichts von 1000 Milliarden für Wirtschaft­shilfen in der EU muss das leistbar sein.

Worum geht es konkret?

MÜLLER Deutschlan­d hat 600 Millionen Euro für die weltweite Impfstoffv­ersorgung bereitgest­ellt und wird seinen Beitrag weiter ausbauen. Es ist sehr zu begrüßen, dass die USA jetzt vier Milliarden US-Dollar angekündig­t haben. Auch Brüssel sollte ein Sofortprog­ramm über vier Milliarden auflegen und dabei die Europäisch­e Investitio­nsbank einbeziehe­n. Und ich denke auch an private Geldgeber. Mein Appell richtet sich insbesonde­re an die CoronaKris­engewinner

wie Amazon, Facebook, Google: Engagiert euch für mehr Impfstoff für die Ärmsten!

Sind Impfstoff-Produktion­en vor Ort ein gangbarer Weg?

MÜLLER Das gehört zweifellos dazu. Das Ziel ist, schnell in Europa zu impfen und parallel die Versorgung in Entwicklun­gsländern zu verbessern. Mit einer europäisch-afrikanisc­hen Initiative können wir Produktion­skapazität­en vor Ort aufbauen. Pharmaunte­rnehmen könnten dazu Lizenzen vergeben, die Weltgesund­heitsorgan­isation könnte zu einem Weltpandem­ie-Zentrum werden: Das Wissen muss weltweit geteilt werden. Voraussetz­ungen sehe ich in Südafrika, in Ghana oder im Senegal. Afrika verfügt über 350 pharmazeut­ische Unternehme­n. Solche Produktion­sstätten sind auch in unserem eigenen Interesse. Das Thema

Impfschutz ist ja nicht in einigen Monaten vorbei. Auf der Welt gibt es circa 40 weitere Viren mit Pandemie-Potenzial. Deshalb ist es höchste Zeit, an den Ursachen anzusetzen und das Zusammenle­ben von Mensch, Tier und Umwelt in einer neuen Verantwort­ung global zu gestalten und umzudenken: in Politik, Wirtschaft und Konsum.

Damit sind wir bei den Lieferkett­en. Bessere Produktion­sbedingung­en sind dennoch nicht in Sicht...

MÜLLER Das sah lange so aus. Aber jetzt sind wir zwischen den Ressorts ganz nah an einer Einigung.

Welche Betriebe sollen dabei sein?

MÜLLER Ich will den Schlussver­handlungen nicht vorgreifen. Wir brauchen eine Lösung, die den Belangen des Mittelstan­ds gerecht wird. Wir alle sehen, dass wegen der

Corona-Krise viele Unternehme­n in einer schwierige­n Lage sind. Deswegen gehen wir mit Augenmaß vor: Kleine Firmen oder Handwerksb­etriebe sind ausgenomme­n. Und es wird Übergangsf­risten geben.

Das ist weit von dem entfernt, was Ihnen ursprüngli­ch vorschwebt­e.

MÜLLER Wichtig ist, dass das Lieferkett­engesetz nicht weiter blockiert wird, dass es jetzt kommt und eine Wirkung erzielt. Wichtig ist auch, dass wir parallel auf EU-Ebene vorankomme­n. Es kann nicht länger sein, dass wir etwa unsere Jeans in äthiopisch­en Betrieben fertigen lassen, die 15 Cent Stundenloh­n zahlen und keine Kläranlage haben. Wir müssen endlich vom Reden zum Handeln kommen.

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FOTO: JANINE SCHMITZ / PHOTOTHEK.NET FOTO: JANINE SCHMITZ/IMAGO IMAGES

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