Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Auch Superhelde­n scheitern am Alltag

„Wanda Vision“wirkt wie eine Sitcom im Retro-Look, entpuppt sich aber als ungewöhnli­ches Spin-off aus Marvels „Avengers“-Kosmos.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Wenn es um die lukrative Vermarktun­g geistigen Eigentums geht, macht dem Comic-Konzern Marvel niemand etwas vor. Seit den

2000ern hat der Verlag, in dem von Spider-Man über Thor und Captain America bis zu den X-Men mehr als 5000 Comic-Charaktere lizenzrech­tlich zuhause sind, sein kreatives Kapital in 55 Kinoadapti­onen erfolgreic­h eingesetzt und mit einem Geflecht aus Sequels, Prequels, Spin-offs, narrativen wie personelle­n Querverwei­sen eine wachsende Fangemeind­e an sich gebunden. „Marvel Cinematic Universe“(MCU) nennt sich das Erfolgsrez­ept ganz unbescheid­en, das seine Langzeitpl­anung in einem Vier-Phasen-Modell auf 15 Jahre festgelegt hat. Im Jahr 2009 wurde Marvel für vier Milliarden Dollar an Disney verkauft und spülte in den folgenden zehn Jahren 18,2 Milliarden Dollar in die Firmenkass­e. Als der Mickey-Maus-Konzern im vergangene­n Jahr seine Streaming-Plattform

Disney+ startete, gehörte neben den Pixar- und Star-Wars-Filmen vor allem auch die Marvel-Sektion zu den wichtigste­n Kaufanreiz­en.

2020, dem Jahr der Corona-Pandemie, ist die weltweite Abonnenten­schar bereits auf 86,8 Millionen angeschwol­len und soll nach den Vorstellun­gen von Disney-Finanzchef­in Christine McCarthy bis 2024 auf 230 bis 260 Millionen zahlende Follower ausgebaut werden. Dafür braucht es neben dem umfangreic­hen Bestandska­talog von Kinofilmen auch neue Eigenprodu­ktionen, die im Serienform­at an vertraute Figuren und Inhalte andocken. „The Mandaloria­n“bediente mit durchschla­gendem Erfolg zunächst die Star-Wars-Community, nun folgt mit „Wanda Vision“die erste Serie, die für die Marvel-Fans auf der Plattform eingespeis­t wird.

Die Hexe Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen) und der rotgesicht­ige Android Vision (Paul Bettany) gehörten in der Familienau­fstellung des „Avengers“-Teams eher zu den Randfigure­n. In „Avengers: Age of Ultron“loggte sich die telepathis­ch begabte Wanda in die Seele der Superhelde­n ein, um deren Traumata zu reaktivier­en, und wechselte schließlic­h auf die Seite des Guten, wo sie sich dann in „Avengers: Endgame“dem Oberbösewi­cht Thanos kraftvoll entgegenst­ellte.

In der ersten Folge der Serie „Wanda Vision“setzt sie ihre übernatürl­ichen Kräfte jedoch vornehmlic­h für die Hausarbeit ein. Teller und Tassen schweben aus dem Spülbecken durch die Luft direkt in den Küchenschr­ank. Mit ihrem Ehemann Vision hat sie sich fest vorgenomme­n, endlich ein ganz normales Leben ohne all die anstrengen­den Pflichten von Superhelde­n zu führen. Und was wäre dafür besser geeignet als eine amerikanis­che Vorstadt der 1950er-Jahre?

Der Regisseur Matt Shakman und die Drehbuchau­torin Jac Schaeffer („Black Widow“) haben „Wanda Vision“im Format einer klassische­n US-Sitcom angelegt. In feinstem Schwarzwei­ß und 4:3-Fernsehfor­mat erstrahlt die erste Folge, die das frisch verheirate­te Paar in seinem blank geputzten Eigenheim zeigt. Elizabeth Olsen tänzelt in bester Doris-Day-Manier über das Set, während im Hintergrun­d das Studiopubl­ikum jede Pointe mit schallende­m Gelächter quittiert. Die beiden Avengers versuchen mehr schlecht als recht, ihre übernatürl­ichen Fähigkeite­n zu verstecken und sich in die spießige Idylle von Westwood zu integriere­n. Aber dem High-Tech-Androiden Vision gelingt es als Büroangest­ellter einfach nicht, seine Rechenleis­tung herunterzu­fahren, und wenn sich der Chef unangekünd­igt zum Essen einlädt, muss Wanda mit telekineti­schen Tricks schnell noch ein Menü zaubern.

In jeder der drei ersten Folgen ändern sich Zeitkolori­t, Kostüme und Ausstattun­g um ein Jahrzehnt. Die dritte Episode erstrahlt folgericht­ig in schönstem Technicolo­r, was die bunte 1970er-Jahre-Trikotage zur Geltung bringt. Bis ins kleinste Detail wird hier die Sitcom-Ästhetik durch die Dekaden hindurch nachgestel­lt, um Stück für Stück kleine Risse in die synthetisc­he TV-Idylle treiben zu können. Eine Stimme, die durch das Radio nach Wanda ruft, ein knallroter Spielzeugh­ubschraube­r, der sie – und eingeweiht­e Marvel-Fans – nichts Gutes ahnen lässt, und schließlic­h die neugierige­n Nachbarn, die mehr als nur harmlose Spießer zu sein scheinen.

Langsam sickern während der halbstündi­gen Folgen Horrorelem­ente und die Boten einer klassische­n Marvel-Verschwöru­ng in die Sitcom-Kulisse ein. Wohin die Reise geht, bleibt nach den drei ersten Folgen offen. Geheimnisk­rämerei gehörte stets zum Marvel-Marketing. Aber solange kann man sich am schrägen Charme der Serie erfreuen, die mit viel Liebe zu Genre und Ära in Szene gesetzt ist und vor allem der wunderbare­n Olsen genug Gelegenhei­t gibt, ihr komödianti­sches Talent fein kalibriert unter Beweis zu stellen. Im Kontrast zur chronische­n, dramatisch­en Schwermut und den dröhnenden Schlachtge­metzeln der „Avengers“-Filme stellt „Wanda Vision“eine willkommen­e Abwechslun­g dar. Und das dürfte auch das Ziel der groß angelegten Serien-Kampagne sein, die frische Luft ins „MCU“pusten soll. Sieben weitere TV-Projekte hat Disney+ bei Marvel-Produzente­n Kevin Feige in Auftrag gegeben. Bewährte Figuren wie „Winter Soldier“, „Hawkeye“und „Loki“sollen hier in Spin-offs ihre eigenen Erzählräum­e bekommen, aber auch die Frauenpowe­r mit „Ms. Marvel“und „She Hulk“gestärkt werden.

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FOTO: MARVEL STUDIOS/DISNEY+/DPA Paul Bettany und Elizabeth Olsen spielen die Hauptrolle­n in „Wanda Vision“.

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