Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Jugend musiziert im Wohnzimmer

Nachwuchs ohne Bühne: Wichtige Musikwettb­ewerbe müssen in diesem Jahr online stattfinde­n. Je mehr Musiker allerdings vor die Kamera sollen, desto schwierige­r wird es.

- VON WOLFRAM GOERTZ

„Jugend musiziert“zählt zu den Traditions­einrichtun­gen der Bundesrepu­blik. Brav gescheitel­te Knirpse und Girlies mit Lippenpier­cing überreiche­n einer gutwillige­n Jury die musikalisc­hen Früchte ihres Übens. Die Jury verteilt Punkte und schickt die Besten zur nächsthöhe­ren Instanz, dem Landes- oder Bundeswett­bewerb.

Junggenies begegnen der Jury gewiss selten, aber sie erlebt viele Kinder und Jugendlich­e, die über Monate intensiv geübt haben, nun darauf brennen, das Erlernte endlich voller Stolz zu zeigen, und dabei sogar richtig schön Musik machen. Natürlich sieht man auch jene tapferen Kandidaten, die sich die Zähne am Rondo aus Beethovens „Pathétique“ausgebisse­n haben, jetzt mit klitschnas­sen Fingern vor dem Flügel sitzen, Aquaplanin­g auf den Tasten produziere­n und am Ende vor allem erlöst sind, dass sie ihr Minikonzer­t hinter sich haben. Egal. Wer hier teilnimmt, der hat ja diverse innere Schweinehu­nde besiegt. Oma und Tante Nicole klatschen jedenfalls immer, was nicht unwichtig ist, und die Jury nickt freundlich. Dabei sein ist alles.

Dabei sein ist in diesem Jahr nur sehr begrenzt möglich, denn Corona erzwingt auch bei „Jugend musiziert“neue Auftrittsf­ormen. Was bei Castingsho­ws im Privatfern­sehen schon seit Jahren funktionie­rt, ist nun bei „Jugend musiziert“ebenfalls erforderli­ch – diesmal aus Gründen des Infektions­schutzes. Öffentlich­e Auftritte sind bei den Regionalwe­ttbewerben in den kommenden Wochen untersagt, die Kandidaten müssen ihre Vorspiele daheim absolviere­n, per Video aufnehmen, im Internet für die Jury hochladen. Das gab’s noch nie. Ist das ein Sündenfall? Oder eher eine intelligen­te Ausnahmere­gelung in schwierige­r Zeit? Mogeln ist jedenfalls ausgeschlo­ssen. Jedes Video muss ohne Schnitte, also in einem Durchgang aufgenomme­n werden. Produktive Nervosität ist durchaus erwünscht: Damit trotz Wohnzimmer-Atmosphäre ein gewisser Kitzel entsteht, heißt es in der Ausschreib­ung: „Bitte tragt eure Musik vor der Kamera und den Mikros so vor, als ob ihr euch vor der Jury befändet. Das Ganze soll so ehrlich wie möglich sein.“

In den Solo-Wertungen dürfte das alles kein Problem sein, doch wie steht es um die Ensembles? Je mehr junge Leute eine Kamera einfangen soll, desto schwierige­r wird es. Gruppenwer­tungen unter Einhaltung von Abstandsre­geln sind in der Pandemie schwierig, bei Bläsern sowieso heikel, und seit bekannt ist, dass Kinder am Infektions­geschehen sehr wohl aktiv teilnehmen, musiziert es sich auf dünnem

Eis. Für die Teilnehmer entfällt gewiss der Leidensdru­ck des Live-Auftritts. Zudem liegt es in ihrer Entscheidu­ng, ob sie ihren ersten oder ihren 92. Versuch hochladen. Keiner kontrollie­rt das. Besser wird allerdings niemand, je mehr Schleifen er hinter sich bringt.

Im Bonner Büro des Wettbewerb­s heißt es: Ja, 2021 bedeutet einen Einschnitt, zumal das Ziel, junge Menschen in Kontakt zueinander zu bringen, per Video nicht funktionie­rt. In der Tat: Alle Teilnehmer melden sich wie Trabanten aus ihrer Einzelhaft.

Weniger um pädagogisc­he Ziele und harmonisch­e Familienzu­sammenführ­ung, sondern um olympische Kategorien geht es bei anderen Wettbewerb­en; deren Ergebnisse sind fürs Berufslebe­n der Aspiranten wichtig. Auch bei der „Robert Schumann Competitio­n“in Düsseldorf, einem internatio­nalen Wettbewerb

für junge Pianisten, ist derzeit digitale Abwicklung angesagt. Hier waren schon im Dezember die Bedingunge­n deutlich verschärft. Jeder der über 40 Teilnehmer aus 28 Ländern bekam ein Zeitfenste­r mitgeteilt, in dem er an seinem Klavier sitzen, sein Programm vor laufender Kamera spielen und direkt im Anschluss hochladen musste. Damit er nicht flunkerte, wurde sein

Vorspiel per Skype überwacht. Die Jury (darin unter anderem Kapazitäte­n wie Eric Le Sage, Pavel Gililov, Wolfgang Manz und Barbara Szczepansk­a) saß verteilt über die ganze Welt, sammelte Videos und bewertete sie.

Zu den Richtlinie­n dieses Schumann-Wettbewerb­s zählt, dass jeder Teilnehmer mit der Veröffentl­ichung seines Videos einverstan­den ist. So ist bei Youtube – als klingender Ertrag der ersten Runde – ein mehr als zwei Stunden dauerndes, fasziniere­ndes Porträt des weltweiten pianistisc­hen Nachwuchse­s entstanden. Es bietet auch eine Parade von Kleidern, Ohrringen, Anzügen, Schuhen, Kosmetika, Brillen, Frisuren, Ambientes. Das hat etwas Herzerfris­chendes. Trotzdem merkt der geneigte Hörer auch hier sofort, wer etwas zu sagen und wer nur Stücke auswendig gelernt hat.

Viele Wettbewerb­e müssen derzeit mit digitalen Plattforme­n vorliebneh­men. Der Kunst als unmittelba­rer Botschaft von Mensch zu Mensch wird mediales Datenmanag­ement zwischenge­schaltet. Das ist eine neue Erfahrung und bringt erst einmal niemanden um. Auf Dauer steigert es aber die Sehnsucht nach dem echten Live auf der Bühne. Seien wir ehrlich: Thriller entstehen im Wohnzimmer nur selten.

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FOTO: BUNDESGESC­HÄFTSSTELL­E „JUGEND MUSIZIERT“ Die Jury und die Schülerin: Szene vom Bundeswett­bewerb „Jugend musiziert“1972 im Fach Gitarre.

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