Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Jugend musiziert im Wohnzimmer
Nachwuchs ohne Bühne: Wichtige Musikwettbewerbe müssen in diesem Jahr online stattfinden. Je mehr Musiker allerdings vor die Kamera sollen, desto schwieriger wird es.
„Jugend musiziert“zählt zu den Traditionseinrichtungen der Bundesrepublik. Brav gescheitelte Knirpse und Girlies mit Lippenpiercing überreichen einer gutwilligen Jury die musikalischen Früchte ihres Übens. Die Jury verteilt Punkte und schickt die Besten zur nächsthöheren Instanz, dem Landes- oder Bundeswettbewerb.
Junggenies begegnen der Jury gewiss selten, aber sie erlebt viele Kinder und Jugendliche, die über Monate intensiv geübt haben, nun darauf brennen, das Erlernte endlich voller Stolz zu zeigen, und dabei sogar richtig schön Musik machen. Natürlich sieht man auch jene tapferen Kandidaten, die sich die Zähne am Rondo aus Beethovens „Pathétique“ausgebissen haben, jetzt mit klitschnassen Fingern vor dem Flügel sitzen, Aquaplaning auf den Tasten produzieren und am Ende vor allem erlöst sind, dass sie ihr Minikonzert hinter sich haben. Egal. Wer hier teilnimmt, der hat ja diverse innere Schweinehunde besiegt. Oma und Tante Nicole klatschen jedenfalls immer, was nicht unwichtig ist, und die Jury nickt freundlich. Dabei sein ist alles.
Dabei sein ist in diesem Jahr nur sehr begrenzt möglich, denn Corona erzwingt auch bei „Jugend musiziert“neue Auftrittsformen. Was bei Castingshows im Privatfernsehen schon seit Jahren funktioniert, ist nun bei „Jugend musiziert“ebenfalls erforderlich – diesmal aus Gründen des Infektionsschutzes. Öffentliche Auftritte sind bei den Regionalwettbewerben in den kommenden Wochen untersagt, die Kandidaten müssen ihre Vorspiele daheim absolvieren, per Video aufnehmen, im Internet für die Jury hochladen. Das gab’s noch nie. Ist das ein Sündenfall? Oder eher eine intelligente Ausnahmeregelung in schwieriger Zeit? Mogeln ist jedenfalls ausgeschlossen. Jedes Video muss ohne Schnitte, also in einem Durchgang aufgenommen werden. Produktive Nervosität ist durchaus erwünscht: Damit trotz Wohnzimmer-Atmosphäre ein gewisser Kitzel entsteht, heißt es in der Ausschreibung: „Bitte tragt eure Musik vor der Kamera und den Mikros so vor, als ob ihr euch vor der Jury befändet. Das Ganze soll so ehrlich wie möglich sein.“
In den Solo-Wertungen dürfte das alles kein Problem sein, doch wie steht es um die Ensembles? Je mehr junge Leute eine Kamera einfangen soll, desto schwieriger wird es. Gruppenwertungen unter Einhaltung von Abstandsregeln sind in der Pandemie schwierig, bei Bläsern sowieso heikel, und seit bekannt ist, dass Kinder am Infektionsgeschehen sehr wohl aktiv teilnehmen, musiziert es sich auf dünnem
Eis. Für die Teilnehmer entfällt gewiss der Leidensdruck des Live-Auftritts. Zudem liegt es in ihrer Entscheidung, ob sie ihren ersten oder ihren 92. Versuch hochladen. Keiner kontrolliert das. Besser wird allerdings niemand, je mehr Schleifen er hinter sich bringt.
Im Bonner Büro des Wettbewerbs heißt es: Ja, 2021 bedeutet einen Einschnitt, zumal das Ziel, junge Menschen in Kontakt zueinander zu bringen, per Video nicht funktioniert. In der Tat: Alle Teilnehmer melden sich wie Trabanten aus ihrer Einzelhaft.
Weniger um pädagogische Ziele und harmonische Familienzusammenführung, sondern um olympische Kategorien geht es bei anderen Wettbewerben; deren Ergebnisse sind fürs Berufsleben der Aspiranten wichtig. Auch bei der „Robert Schumann Competition“in Düsseldorf, einem internationalen Wettbewerb
für junge Pianisten, ist derzeit digitale Abwicklung angesagt. Hier waren schon im Dezember die Bedingungen deutlich verschärft. Jeder der über 40 Teilnehmer aus 28 Ländern bekam ein Zeitfenster mitgeteilt, in dem er an seinem Klavier sitzen, sein Programm vor laufender Kamera spielen und direkt im Anschluss hochladen musste. Damit er nicht flunkerte, wurde sein
Vorspiel per Skype überwacht. Die Jury (darin unter anderem Kapazitäten wie Eric Le Sage, Pavel Gililov, Wolfgang Manz und Barbara Szczepanska) saß verteilt über die ganze Welt, sammelte Videos und bewertete sie.
Zu den Richtlinien dieses Schumann-Wettbewerbs zählt, dass jeder Teilnehmer mit der Veröffentlichung seines Videos einverstanden ist. So ist bei Youtube – als klingender Ertrag der ersten Runde – ein mehr als zwei Stunden dauerndes, faszinierendes Porträt des weltweiten pianistischen Nachwuchses entstanden. Es bietet auch eine Parade von Kleidern, Ohrringen, Anzügen, Schuhen, Kosmetika, Brillen, Frisuren, Ambientes. Das hat etwas Herzerfrischendes. Trotzdem merkt der geneigte Hörer auch hier sofort, wer etwas zu sagen und wer nur Stücke auswendig gelernt hat.
Viele Wettbewerbe müssen derzeit mit digitalen Plattformen vorliebnehmen. Der Kunst als unmittelbarer Botschaft von Mensch zu Mensch wird mediales Datenmanagement zwischengeschaltet. Das ist eine neue Erfahrung und bringt erst einmal niemanden um. Auf Dauer steigert es aber die Sehnsucht nach dem echten Live auf der Bühne. Seien wir ehrlich: Thriller entstehen im Wohnzimmer nur selten.