Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Das Duisburger Heim, in dem Doris Mann lebt, hatte bislang noch keinen Corona-Fall.
Besonders in Altenheimen wütet die Pandemie. Doch in Duisburg, der Stadt mit den meisten Corona-Toten in NRW, steht eine Einrichtung, in der noch nie ein Test positiv war. Wie hat das Malteserstift St. Johannes das geschafft?
Im Erdgeschoss, hinter der Pforte links, endet der Flur am Ort der Sehnsucht. Es ist ein kleiner Raum, etwas größer als ein Wohnzimmer. Von der Wand aus wacht eine Jesus-Figur, an den Tischen hat schon lange niemand mehr gesessen. Cafeteria nennen die Bewohner den Raum, aber er ist so viel mehr. Alle, die noch können, kommen hier zusammen. Morgens zum Kaffee, mittags zum Essen, später zum Kreuzworträtseln, abends zum Reden. Bloß in der Pandemie kommt fast niemand.
An einem Morgen im Januar sitzt in der Cafeteria nur Doris Mann,
71 Jahre, eine zierliche Frau. Ihr Zimmer verlässt sie nur mit dem Rollator, er trägt die Sauerstoffflasche. Mann bekommt nur noch schwer Luft, ihre Lunge ist geschwächt. „Ich habe keine Angst vor dem Virus“, sagt Mann. „Aber ich kann es mir nicht erlauben, das zu kriegen.“
Seit fast drei Jahren lebt Mann im Malteserstift St. Johannes, einem Altenheim im Duisburger Westen. Sie fühlt sich wohl hier, sagt sie, auch weil es in der Einrichtung zu einem kleinen Wunder kam: Noch nie wurde einer der 69 Bewohner oder rund
80 Mitarbeiter positiv auf das Virus getestet. Das St. Johannes ist seit Beginn der Pandemie coronafrei. Alles nur Zufall, sagt die Heimleitung. Aber stimmt das wirklich?
Es gibt in Nordrhein-Westfalen kaum eine Stadt, die von der Pandemie so hart getroffen wurde wie Duisburg. In den landesweiten Statistiken landete sie stets weit vorne. Während man sich im Bundeskanzleramt um Inzidenzen jenseits der 200 sorgt, war Duisburg immer wieder bemüht, nicht die Marke von 300 zu reißen. Zeitweise waren fast 1500 Menschen in der Stadt infiziert, vor dem Testzentrum standen die Menschen Schlange. Nun zählt die Stadt 455 Corona-Tote, in NRW sind es nur im dicht besiedelten Kreis Recklinghausen mehr. Mehr als 40 Prozent der Toten lebten in Senioren- und Pflegeeinrichtungen. In manchen Heimen war nahezu jeder infiziert. Das Haus St. Johannes im Stadtteil Homberg blieb bis heute verschont.
Marc Sauter hat vor einem Jahr die Leitung des Heims übernommen. An seinem ersten Arbeitstag, dem 15. Februar, starb zum ersten Mal ein Mensch in Europa an Covid-19. Auf ihn wartete das schwierigste Jahr seiner Karriere. Sauter ist ein ruhiger Mensch, er wählt seine Worte mit Bedacht: „Ich denke, unsere Situation hat sehr viel mit Glück zu tun.“Die Malteser betreiben in der Stadt sechs Einrichtungen. An allen Standorten gelten dieselben strengen Regeln, aber nur einer zählt null Corona-Fälle. Bewohner werden jede Woche getestet, Mitarbeiter alle drei Tage, Besucher jeden Tag. Wer das Heim betreten will, muss draußen in einem Zelt einen Schnelltest machen. Nur wer negativ ist, darf herein. Das ist nicht in allen Seniorenzentren in Duisburg so. In einigen Einrichtungen reicht auch ein Test vom Tag davor.
Die Corona-Krise hat das Leben im St. Johannes verändert. Natürlich, überall lebt man nun anders, aber einsam sei niemand, sagt Sauter. Die Bewohner dürfen sich weiter treffen, nur nicht alle zusammen in der Cafeteria. Gegessen, zusammen gespielt und gerätselt wird jetzt auf den Etagen, jeder darf nur noch Kontakt zu den Nachbarzimmern haben. „Unsere Bewohner sollen eine gute Zeit hier haben“, sagt Sauter. Das St. Johannes ist schließlich ihre letzte Lebensstätte.
Heike Großheimann, die Pflegedienstleiterin, weiß, wer besonders viel Zuwendung braucht. Nicht jeder Bewohner bekommt regelmäßig Besuch, viele Angehörige bleiben aus Vorsicht zu Hause. Auch Doris Mann sieht ihre Familie kaum, die Tochter ist schwanger. Mann hat ihr deshalb verboten zu kommen. Die Pfleger sind beeindruckt von so viel Disziplin. „Wichtig ist aber, dass die Möglichkeit da ist, der erste Lockdown war dahingehend eine Katastrophe“, sagt Großheimann.
An Weihnachten haben sie alle zusammen gewichtelt. Jeder Mitarbeiter hat sich einen Bewohner ausgesucht. Abends gab es Gänsekeule mit Rotkohl. In den Adventstagen kamen die Kleinen vom Kindergarten nebenan vorbei, im Hof sangen sie Lieder, die Bewohner standen in Decken gekuschelt am Balkon. „Vielen geht es hier doch besser als allein zu Hause“, sagt Großheimann.
In der Cafeteria blickt Doris Mann zu den Fenstern. Manchmal geht sie noch nach draußen in den Hof und raucht eine Zigarette. Sie will es sich nicht nehmen lassen. Mann sagt, sie hoffe, dass die Zeiten bald besser werden. Dass Corona vorbei ist. Wenn alle wieder in die Cafeteria kommen, zum Essen, Spielen und um gemeinsam die alten Filme zu schauen. Doch das wird dauern. In der Cafeteria haben die Malteser eine Trennwand eingezogen, dahinter wird der Impfstoff gespritzt. Fast alle Bewohner wurden immunisiert, jetzt warten sie auf die zweite Dosis. Wenn alles wieder gut ist, vielleicht im Sommer, will Doris Mann zu ihrer Tochter nach draußen, einfach spazieren, bis zur nächsten Eisdiele. „Und da hole ich mir eine Kugel Schwarzwälder Kirsch“, sagt sie.