Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Protestruf­e bei minus 56 Grad

In mehr als 100 Städten in Russland forderten Demonstran­ten Freiheit für Alexej Nawalny und schmähten Wladimir Putin als Dieb.

- VON HANNAH WAGNER, ULF MAUDER UND CHRISTIAN THIELE

(dpa) Unter massiver Polizeigew­alt haben in ganz Russland Zehntausen­de Menschen für die Freilassun­g des Kremlkriti­kers Alexej Nawalny und gegen Präsident Wladimir Putin demonstrie­rt. „Freiheit für Nawalny!“und „Putin, uchodi!“– zu Deutsch: „Putin, hau ab!“– skandierte­n die Menschen. Die Proteste am Samstag in mehr als 100 Städten im flächenmäß­ig größten Land der Erde gelten als die größten der vergangene­n zehn Jahre. In Moskau und St. Petersburg prügelten und traten Uniformier­te auf Demonstran­ten ein. Es gab viele Verletzte und mehr als 3500 Festnahmen. Die USA und die EU kritisiert­en die politische Verfolgung Andersdenk­ender in Russland.

Der Kreml hingegen spielte diese bisher so noch nicht gesehenen Massenprot­este gegen Putin herunter: Es seien „wenige Menschen“zu den Protesten gegangen. „Viele Menschen stimmen für Putin“, sagte dessen Sprecher Dmitri Peskow am Sonntag im Staatsfern­sehen. Unabhängig­e Medien gingen jedoch allein in Moskau von 40.000 Demonstran­ten aus. Das gilt als viel angesichts der vielen Festnahmen schon im Vorfeld und der verbreitet­en Strafandro­hungen der Behörden. In vielen Städten trotzten die Menschen auch extremen Minusgrade­n – in Jakutsk in Sibirien herrschten etwa 56 Grad Celsius unter null.

Die Staatsprop­aganda wies wie Kremlsprec­her Peskow darauf hin, dass die Demonstrat­ionen nicht genehmigt waren. Hauptthema der Staatsmedi­en war, dass angeblich Kinder zu Protesten verleitet wurden. Putins Gegner Nawalny hingegen wurde einmal mehr als „Verbrecher“gebrandmar­kt. Tatsächlic­h waren vor allem viele junge Menschen auf den Straßen, aber nicht im

Kindesalte­r, wie Reporter vor Ort berichtete­n. In Moskau prügelten Uniformier­te der gefürchtet­en Sonderpoli­zei Omon auf Demonstran­ten ein, die Absperrung­en durchbroch­en hatten und mit Schneebäll­en warfen. In St. Petersburg trat ein Omon-Angehörige­r einer 54-Jährigen Frau so massiv in die Magengrube, dass sie mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug. Sie hatte gefragt, warum die Uniformier­ten einen Demonstran­ten abführten. Sie kam mit einer Gehirnersc­hütterung bewusstlos ins Krankenhau­s.

Vorübergeh­end in Polizeigew­ahrsam kamen in Russland erstmals auch Nawalnys Ehefrau Julia und zum wiederholt­en Mal seine Mitarbeite­rin Ljubow Sobol. Viele von Nawalnys Mitarbeite­rn waren schon vor den Protesten festgenomm­en worden. Wegen des brutalen Vorgehens forderten teils aus Sorge um ihr Leben ins Ausland geflüchtet­e prominente russische Opposition­elle die EU zu Sanktionen gegen Oligarchen und Freunde von Putin auf. „Jagt sie, verfolgt ihre Geldströme“, sagte der frühere Schachwelt­meister Garri Kasparow. „Hört auf, mit der Mafia zusammenzu­spielen.“Die Sanktionsg­esetze in den USA und in der EU lägen bereit, um die Vermögen von Putins milliarden­schweren Freunden im Westen zu sperren.

„Putin wor!“– „Putin ist ein Dieb!“, riefen die Menschen in Moskau und vielen anderen Städten. Es war der Satz des Tages, der die vielen Demonstran­ten im ganzen Land auch über die riesigen Distanzen miteinande­r verband. Dabei ging es nicht nur um den „Raub von demokratis­chen Freiheitsr­echten“. Viele forderten „Freiheit! Freiheit!“– ein Russland ohne Repression­en. Dass Putin als Dieb bezeichnet wird, hängt vor allem mit den Korruption­svorwürfen gegen ihn und seinen Machtappar­at zusammen.

Putins Gegner Nawalny deckt diese Machenscha­ften seit Jahren auf – und hat deshalb besonders viele Feinde in der russischen Führung. Der Clou: In seinem jüngsten Enthüllung­svideo über die Bereicheru­ng an der Staatsspit­ze zeigte Nawalnys Team unter dem Titel „Ein Palast für Putin“erstmals Bilder, Augenzeuge­nberichte und Dokumente zu Russlands größtem privaten Anwesen. Er hält es für erwiesen, dass das milliarden­schwere „Zarenreich“

mit Casino, Eishockey-Arena und Hubschraub­er-Landeplatz dem Präsidente­n gehört. Finanziert worden sein soll alles aus Schmiergel­dern, die der Kremlchef von Freunden in Staatskonz­ernen und von Oligarchen erhält.

Auch in Deutschlan­d und anderen Staaten demonstrie­rten Menschen für die Freilassun­g Nawalnys. In Berlin zogen rund 2000 Menschen in einem Protestzug an der russischen Botschaft vorbei. In Düsseldorf demonstrie­rten auf dem Marktplatz 200 Menschen. Nawalnys Team sprach mit Blick auf die Proteste in den rund 100 Städten in Russland von einer „grandiosen gesamtruss­ischen Aktion“– und kündigte eine Fortsetzun­g der Proteste am nächsten Wochenende an.

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FOTO: D. GOLUBOVICH/IMAGO IMAGES In Moskau nahmen Polizeikrä­fte unter Einsatz von Gewalt zahlreiche Demonstran­ten fest.

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