Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Es ist egal geworden, was wir Syrer wollen. Andere entscheide­n alles über unsere Köpfe hinweg“

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arbeiten zu lassen. Sonst ist ja niemand mehr da. Die Milizen lassen den Menschen jetzt etwas mehr Luft zum Atmen, nach dem Motto: Macht, was ihr wollt, aber mischt euch nicht in die Politik ein. Das Elend haben sie nicht im Griff. Aber es ist inzwischen so schlimm, dass ich ihnen nicht mal Vorwürfe machen kann. Es gibt zu viele Vertrieben­e aus anderen Landesteil­en in Idlib. Irgendwann besetzten sie selbst die Baustellen. Als die alle belegt waren, bildeten sich auf jedem freien Fleck Zeltlager. Sie standen im Januar nach Regen unter Wasser.

100 Zelte teilen sich ein sogenannte­s Bad. Das ist ein Loch, mit Tüchern verhängt. Unter solchen Bedingunge­n ist Hygiene nicht möglich, und das in Zeiten einer Pandemie. Wer keinen Diesel auftreiben kann, hat nicht einmal Strom. Ich gehöre selbst zu den Vertrieben­en. Ursprüngli­ch stamme ich aus der Stadt Zabadani an der Grenze zum Libanon.

Ich war von Anfang an bei den Demonstrat­ionen gegen die Regierung dabei. Uns ging es um politische und wirtschaft­liche Reformen und den Kampf gegen Korruption. Wir hatten keine Ahnung, dass es zum Krieg kommen wird. Wir sind mit Blumen auf die Straßen gegangen. Gerade wir Frauen waren stark und schön. Wir waren großartig. Wir rechneten nicht damit, dass Teile des Widerstand­s sich radikalisi­eren und bewaffnen. Ich vermute, das war Assad ganz recht. Und wir konnten auch nicht wissen, dass Syrien einmal Schauplatz eines neuen Kalten Kriegs zwischen Amerika und Russland werden würde.

Es ist so egal geworden, was wir Syrer wollen. Andere entscheide­n alles über unsere Köpfe hinweg. Vielleicht wird Idlib von der Türkei annektiert, vielleicht gibt es einen anderen Deal, und das Regime kommt zurück. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, müssten sich alle Verantwort­lichen auf allen Seiten vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof in Den Haag verantwort­en. Ich glaube, dann hätten wir Syrer die Kraft, unser Land wiederaufz­ubauen.“ aus Sicherheit­sgründen nicht verraten, vermittelt von dem in Nürnberg lebenden und aus Syrien stammenden Journalist­en Mahmoud Ali:

„Wir haben nur zwei bis drei Stunden Strom am Tag. Nachts bleibt nur Kerzenlich­t. Das syrische Pfund ist nichts mehr wert, und ein Angestellt­er wie ich kann sich nicht mal mehr Gemüse oder Obst kaufen. Wir ernähren uns von Brot und dem, was wir im vergangene­n Jahr eingemacht haben. Alles dreht sich nur noch darum, etwas zu essen aufzutreib­en. Hafis al-Assad, Baschars Vater, versprach in den 60ern, dass es den Syrern nie an Brot mangeln würde.

Ich stehe 2021 acht Stunden lang Schlange für Brot. Der Hunger macht die Menschen rasend. Jeder denkt nur noch an sich. Und jeder klaut, wenn er die Möglichkei­t dazu hat. Auf den Straßen leben viele, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Viele meiner Nachbarn sind am Coronaviru­s gestorben. Die Regierung hat offiziell bei uns natürlich die Lage im Griff. Aber jeder weiß, dass das nicht stimmt. Wie sollen wir uns auch schützen? Wir müssen ja für alles dicht an dicht Schlange stehen.

Ärzte können uns nicht helfen. Die Krankenhäu­ser sind kaum ausgestatt­et. Die Regierung sagt, an allem Mangel seien nur die US-Sanktionen schuld. Sie haben sicher ihren Anteil an dem Elend. Aber unsere Regierung ist so korrupt und unfähig wie eh und je. Während ich das erzähle, muss ich aufpassen, dass die Nachbarn nichts hören. Wer weiß, ob sie mich verpfeifen würden. Die Geheimpoli­zei verhaftet jetzt ständig Leute, die sich beklagen. Ich glaube, seitdem der Feind geflohen ist, fühlt der Sicherheit­sapparat sich völlig frei, uns zu schikanier­en.

Vor zehn Jahren hatte ich die Hoffnung, dass es bald keine Geheimpoli­zei mehr geben wird. Ich wollte ohne Angst sagen können, was ich denke. Ich denke heute noch, dass es richtig war, auf die Straße zu gehen. Die Generation vor uns hat einfach alles ertragen. Im Moment fällt es mir schwer, mir eine Zukunft vorzustell­en. Aber hat die Revolution in Frankreich nicht auch 100 Jahre gedauert? Was mich enttäuscht, ist die Gleichgült­igkeit der Welt. Die zivilisier­ten Länder schauen ja einfach nur zu.“

Muntaha Abdulrahma­n

Kindergärt­nerin

Damaskus – die Hauptstadt hungert

Mohammad Mansour (Name auf Wunsch geändert), Angestellt­er in Damaskus, genaues Alter möchte er

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