Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Experten fürchten mehr Corona-Tote
Höhere Mobilität, Öffnungen und ansteckende Virus-Varianten führen laut Modellrechnungen erneut zum Anstieg der Infektionszahlen. Auch schwere und tödliche Verläufe dürften zunehmen – wenn es keine Gegenmaßnahmen gibt.
Manchmal benötigen auch schlechte Nachrichten einige Zeit, bis sie sich verbreiten. Vor allem, wenn sie nicht in die Stimmungslage der Lockdown-Müdigkeit und zum Wunsch nach Öffnung passen. Seit mehreren Tagen warnen Epidemiologen vor einem starken Anstieg der wöchentlichen Infektionszahlen pro 100.000 Einwohner. Diese Inzidenz werde schon Ende März auf über 100 hochschnellen, errechnete der Saarbrücker Pharmakologe Thorsten Lehr mit seinem Team; Mitte April könnten Werte von 500 und mehr erreicht werden. Andere Modellrechner bestätigen den Trend: Nach einer Simulation des Mobilitätsforschers Kai Nagel von der TU Berlin sind schon zu Ostern Inzidenzen von 300 möglich. Das Robert-Koch-Institut hat am Wochenende die Berechnung verbreitet, wonach der Wert am 5. April bei 350 liegen könnte.
Diese Zahlen würden weit über den Werten liegen, die an Weihnachten erstmals Rekorde von über 200 erreichten. Denen folgten Anfang Januar erneute Verschärfungen der Corona-Maßnahmen, bevor die Zahl der Infektionen wieder sank. Jetzt steht die Politik vor einem ähnlichen Dilemma. Genau zu dem Zeitpunkt, da alle Zeichen auf weitere Öffnungen vor allem von Schulen und Kitas stehen, drohen neue Höchstwerte bei den Infektionen.
Allerdings hat sich das Ansteckungsgeschehen verlagert: Ende
2020 gab es die meisten Infektionen bei den Hochbetagten und in den Alters- und Pflegeheimen. So betrug die Inzidenz bei den 85- bis 90-Jährigen 445, bei den über 90-Jährigen sogar 726. Die Folge war eine exorbitant hohe Todesziffer, die alle bisherigen Maßstäbe sprengte. Der traurige Rekord an Corona-Toten wurde am 12. Januar erreicht, als
1207 Menschen an einem Tag mit oder an den Folgen der Lungenkrankheit starben.
Trotz aller Schwierigkeiten bei der Impfkampagne haben inzwischen die meisten Heimbewohner den Corona-Schutz erhalten. Auch die Fallzahlen bei den über 80-Jährigen, die teils schon geimpft sind, haben sich deutlich verringert. Bei den 80- bis 84-Jährigen liegt die Inzidenz gerade einmal bei 46. Selbst die Altersklasse 60 bis 80 ist mittlerweile weniger stark repräsentiert, hat der Mathematiker Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich herausgefunden: „Sollte es sich dabei um den erhofften Effekt der Impfungen handeln, dann ist davon auszugehen, dass sich dieser Trend fortsetzt und der Anteil der schweren Verläufe spürbar zurückgeht.“Die Belastung des Gesundheitssystems und die Zahl der Todesfälle, so Fuhrmann, dürften daher niedriger ausfallen als in der Folge der hohen Inzidenz im Dezember.
Doch ganz so optimistisch sind die meisten Epidemiologen dann doch nicht. Denn der Anteil der ansteckenderen Variante B.1.1.7, der britischen Mutante, liegt inzwischen bei weit über 50 Prozent. Anfang April wird ihr Anteil nach Berechnungen des Saarbrücker Professors
Lehr bei 90 Prozent liegen. Das Forschungszentrum Jülich hat anhand von Google-Mobilitätsdaten festgestellt, dass sich die Menschen draußen und bei Alltagseinkäufen auf dem Niveau von vor der Pandemie bewegen. Auch die Zahl der Pendler nimmt wieder stark zu. „Schon jetzt reichen selbst die strengen Maßnahmen vom Januar nicht mehr aus, die Zahlen der Neuinfektionen auch nur konstant zu halten“, warnt der Berliner Mobilitätsforscher Nagel. Und dabei ist die Öffnungswelle bei Schulen und Kitas noch gar nicht einberechnet.
Nimmt man alles zusammen, also auch den besseren Schutz der älteren und verwundbaren Bevölkerung, so kommt das Team um den Pharmakologen Lehr zu einem Szenario, wonach die Zahl der Toten von jetzt 74.000 in zwei Monaten auf über 150.000 steigen könnte, wenn die Politik nicht die Maßnahmen wieder verschärft. Bereits Ende April könnte die Zahl der täglichen Todesfälle auf über 700 steigen. Mehr als 5000 Menschen würden auf Intensivstationen behandelt, derzeit sind es 2800. Doch seit einigen Tagen steigen diese Zahlen wieder.
Die Aussichten sind also sehr gemischt. Die Todeszahlen des Dezembers und des Januars sind wohl nicht zu erwarten, dank des Impffortschritts. Aber einen Anstieg der Zahl der Menschen, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen oder an Covid-19 sterben, erwartet auch der Biologe Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Zwar sei ein Großteil der Menschen über 80 Jahre geimpft. Doch auch unter 80 Jahren bestehe ein Risiko für schwere Verläufe und Tod. „Wir können sehr schnell wieder in eine massiv steigende Zahl von Patienten auf Intensivstationen geraten, wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern.“
Die Zeichen stehen also nicht unbedingt auf weitere Öffnungen, wenn sich die Ministerpräsidenten der Länder mit der Bundeskanzlerin am kommenden Montag treffen. Die Prognosen mit der höheren Mobilität, den ansteckenderen Varianten bei einem nur mäßigen Impferfolg dürften die Bereitschaft dort senken, weitere Lockerungen des Lockdowns zu beschließen. Die noch immer bestehende Überforderung des Gesundheitssystems durch höhere Fallzahlen und die damit verbundene Sorge vor einer Zunahme der Corona-Toten zeigen deutlich, dass die Pandemie noch längst nicht überwunden ist.