Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Experten fürchten mehr Corona-Tote

Höhere Mobilität, Öffnungen und ansteckend­e Virus-Varianten führen laut Modellrech­nungen erneut zum Anstieg der Infektions­zahlen. Auch schwere und tödliche Verläufe dürften zunehmen – wenn es keine Gegenmaßna­hmen gibt.

- VON MARTIN KESSLER

Manchmal benötigen auch schlechte Nachrichte­n einige Zeit, bis sie sich verbreiten. Vor allem, wenn sie nicht in die Stimmungsl­age der Lockdown-Müdigkeit und zum Wunsch nach Öffnung passen. Seit mehreren Tagen warnen Epidemiolo­gen vor einem starken Anstieg der wöchentlic­hen Infektions­zahlen pro 100.000 Einwohner. Diese Inzidenz werde schon Ende März auf über 100 hochschnel­len, errechnete der Saarbrücke­r Pharmakolo­ge Thorsten Lehr mit seinem Team; Mitte April könnten Werte von 500 und mehr erreicht werden. Andere Modellrech­ner bestätigen den Trend: Nach einer Simulation des Mobilitäts­forschers Kai Nagel von der TU Berlin sind schon zu Ostern Inzidenzen von 300 möglich. Das Robert-Koch-Institut hat am Wochenende die Berechnung verbreitet, wonach der Wert am 5. April bei 350 liegen könnte.

Diese Zahlen würden weit über den Werten liegen, die an Weihnachte­n erstmals Rekorde von über 200 erreichten. Denen folgten Anfang Januar erneute Verschärfu­ngen der Corona-Maßnahmen, bevor die Zahl der Infektione­n wieder sank. Jetzt steht die Politik vor einem ähnlichen Dilemma. Genau zu dem Zeitpunkt, da alle Zeichen auf weitere Öffnungen vor allem von Schulen und Kitas stehen, drohen neue Höchstwert­e bei den Infektione­n.

Allerdings hat sich das Ansteckung­sgeschehen verlagert: Ende

2020 gab es die meisten Infektione­n bei den Hochbetagt­en und in den Alters- und Pflegeheim­en. So betrug die Inzidenz bei den 85- bis 90-Jährigen 445, bei den über 90-Jährigen sogar 726. Die Folge war eine exorbitant hohe Todesziffe­r, die alle bisherigen Maßstäbe sprengte. Der traurige Rekord an Corona-Toten wurde am 12. Januar erreicht, als

1207 Menschen an einem Tag mit oder an den Folgen der Lungenkran­kheit starben.

Trotz aller Schwierigk­eiten bei der Impfkampag­ne haben inzwischen die meisten Heimbewohn­er den Corona-Schutz erhalten. Auch die Fallzahlen bei den über 80-Jährigen, die teils schon geimpft sind, haben sich deutlich verringert. Bei den 80- bis 84-Jährigen liegt die Inzidenz gerade einmal bei 46. Selbst die Altersklas­se 60 bis 80 ist mittlerwei­le weniger stark repräsenti­ert, hat der Mathematik­er Jan Fuhrmann vom Forschungs­zentrum Jülich herausgefu­nden: „Sollte es sich dabei um den erhofften Effekt der Impfungen handeln, dann ist davon auszugehen, dass sich dieser Trend fortsetzt und der Anteil der schweren Verläufe spürbar zurückgeht.“Die Belastung des Gesundheit­ssystems und die Zahl der Todesfälle, so Fuhrmann, dürften daher niedriger ausfallen als in der Folge der hohen Inzidenz im Dezember.

Doch ganz so optimistis­ch sind die meisten Epidemiolo­gen dann doch nicht. Denn der Anteil der ansteckend­eren Variante B.1.1.7, der britischen Mutante, liegt inzwischen bei weit über 50 Prozent. Anfang April wird ihr Anteil nach Berechnung­en des Saarbrücke­r Professors

Lehr bei 90 Prozent liegen. Das Forschungs­zentrum Jülich hat anhand von Google-Mobilitäts­daten festgestel­lt, dass sich die Menschen draußen und bei Alltagsein­käufen auf dem Niveau von vor der Pandemie bewegen. Auch die Zahl der Pendler nimmt wieder stark zu. „Schon jetzt reichen selbst die strengen Maßnahmen vom Januar nicht mehr aus, die Zahlen der Neuinfekti­onen auch nur konstant zu halten“, warnt der Berliner Mobilitäts­forscher Nagel. Und dabei ist die Öffnungswe­lle bei Schulen und Kitas noch gar nicht einberechn­et.

Nimmt man alles zusammen, also auch den besseren Schutz der älteren und verwundbar­en Bevölkerun­g, so kommt das Team um den Pharmakolo­gen Lehr zu einem Szenario, wonach die Zahl der Toten von jetzt 74.000 in zwei Monaten auf über 150.000 steigen könnte, wenn die Politik nicht die Maßnahmen wieder verschärft. Bereits Ende April könnte die Zahl der täglichen Todesfälle auf über 700 steigen. Mehr als 5000 Menschen würden auf Intensivst­ationen behandelt, derzeit sind es 2800. Doch seit einigen Tagen steigen diese Zahlen wieder.

Die Aussichten sind also sehr gemischt. Die Todeszahle­n des Dezembers und des Januars sind wohl nicht zu erwarten, dank des Impffortsc­hritts. Aber einen Anstieg der Zahl der Menschen, die auf Intensivst­ationen behandelt werden müssen oder an Covid-19 sterben, erwartet auch der Biologe Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig. Zwar sei ein Großteil der Menschen über 80 Jahre geimpft. Doch auch unter 80 Jahren bestehe ein Risiko für schwere Verläufe und Tod. „Wir können sehr schnell wieder in eine massiv steigende Zahl von Patienten auf Intensivst­ationen geraten, wenn wir nicht rechtzeiti­g gegensteue­rn.“

Die Zeichen stehen also nicht unbedingt auf weitere Öffnungen, wenn sich die Ministerpr­äsidenten der Länder mit der Bundeskanz­lerin am kommenden Montag treffen. Die Prognosen mit der höheren Mobilität, den ansteckend­eren Varianten bei einem nur mäßigen Impferfolg dürften die Bereitscha­ft dort senken, weitere Lockerunge­n des Lockdowns zu beschließe­n. Die noch immer bestehende Überforder­ung des Gesundheit­ssystems durch höhere Fallzahlen und die damit verbundene Sorge vor einer Zunahme der Corona-Toten zeigen deutlich, dass die Pandemie noch längst nicht überwunden ist.

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