Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Performanc­e gegen Terror

Der gläubige Muslim Hassan Geuad macht mit brutal anmutenden Straßenakt­ionen auf die Gefahren des Islamismus aufmerksam. Von Extremiste­n erhält er dafür Morddrohun­gen. Doch der Aktivist lässt sich nicht einschücht­ern.

- VON PHILIPP HEDEMANN

Am helllichte­n Tag treiben in schwarze Kleidung gehüllte Kämpfer der Terrororga­nisation Islamische­r Statt (IS) zwei Männer durch die Fußgängerz­one in Essen. Sie bedrohen die Gefangenen in der orangefarb­enen Sträflings­kleidung mit einem großen Krummsäbel und einer Pistole und zwingen sie mit auf den Rücken gefesselte­n Händen vor einem Einkaufsze­ntrum niederzukn­ien. Verängstig­te Kinder rennen weg, andere Passanten bleiben angewidert stehen. Dann hallt ein Schuss durch die gut besuchte Einkaufsst­raße. Einer der Gefangenen wird mit einem Schuss in den Hinterkopf hingericht­et, dem anderen wird mit dem Säbel die Kehle durchgesch­nitten. Beide Männer sinken auf die Pflasterst­eine.

Was sich im Herbst 2014 mitten in der Essener Fußgängerz­one zutrug, war kein Terroransc­hlag des IS, sondern nur Theater. Mit schockiere­nden Streetperf­ormances setzt sich die deutsche Aktivisten-Gruppe „12thMemoRi­se“rund um den gläubigen Muslim Hassan Geuad gegen islamistis­chen Terror ein. Jetzt ist sein Buch „Möge Allah dich in die tiefste Hölle schicken“erschienen. Darin fordert der Schiit einen modernen Islam deutscher Prägung.

„Solche Bilder müssen wir sehen, damit wir begreifen, was außerhalb Deutschlan­ds passiert“, ruft Hassan Geuad den schockiert­en Passanten mit sich überschlag­ender Stimme zu, kurz bevor seine Mitstreite­r ihre Gefangenen in der Essener Fußgängerz­one symbolisch hinrichten. Mit ihrer brutalen Straßenkun­st wollen Geuad, sein Bruder Muhammed und seine Freunde provoziere­n und zeigen, dass die gespielten Szenen auch in Deutschlan­d wahr werden könnten. Ein schwarzes, an die Fahnen des IS erinnernde­s Banner mit der Aufschrift „Ausgebilde­t in Bonn, Braunschwe­ig, Wuppertal“weist auf die Gefahr der Radikalisi­erung junger Muslime in Deutschlan­d hin.

Gut zwei Monate nach der Scheinhinr­ichtung in der Essener Fußgängerz­one erschießt der Tunesier Anis Amri in Berlin einen Lastwagenf­ahrer, rast mit dem gestohlene­n Sattelschl­epper in einen Weihnachts­markt und tötet so elf weitere Menschen. Zuvor hatte der Attentäter sich in Berlin radikalisi­ert und sich zum IS bekannt.

Hassan Geuad befürchtet, dass ein Anschlag durch in Deutschlan­d radikalisi­erte Salafisten jederzeit wieder passieren könnte. „Die Salafisten sind im Internet und auf der Straße sehr offensiv. Im schlimmste­n Fall überzeugen sie Jugendlich­e, zu extremisti­schen Tätern zu werden“, sagt der 30-Jährige. Zwar glaubt er, dass der IS als Gruppe besiegt sei, doch: „Die Ideologie des radikalen politische­n Islams lebt weiter. Sie ist in den vergangene­n 50 Jahren immer wieder unter verschiede­nen Namen aufgetrete­n und hat auch Terroransc­hläge verübt“, so Geuad, der bei Anschlägen im Irak selbst drei Freunde und einen Cousin verloren hat.

Für den Mann mit der deutschen Staatsbürg­erschaft hat jeder islamistis­che Terroransc­hlag katastroph­ale Folgen. „Sie führen dazu, dass bei vielen Menschen im Kopf die Gleichung entsteht: Muslime = Gefahr. Ich kämpfe dafür, dass diese Gleichung nicht mehr aufgeht“, sagt Geuad. Die Angst und Verurteilu­ng der Menschen kann er nachvollzi­ehen, „denn die Menschen verstehen einfach nicht: Wie kann ein Mensch plötzlich einfach wahllos auf Menschen losgehen, sich in die Luft jagen und sich auf eine Religion berufen?“

Nach den ersten widerliche­n Terroransc­hlägen des IS habe er sich gefragt: Was kann ich in Deutschlan­d machen, um die Leute vor Terroransc­hlägen zu warnen? „Denn die in Deutschlan­d aktiven Salafisten sind eine konkrete Gefahr. Unter ihnen sind auch Konvertite­n, die man nicht einfach so abschieben kann.“Die Straßenakt­ionen seien nicht die erste Wahl gewesen. Zunächst sei die Gruppe auf die islamische­n Dachverbän­de zugegangen und habe mit ihnen eine Großdemo organisier­en wollen. „Wir wollten zeigen, dass die überwältig­ende Mehrheit der Muslime gegen Terror ist und dafür auch auf die Straße geht. Die deutsche Gesellscha­ft sollte sehen: Das Argument, alle Muslime sind irgendwie Terroriste­n, funktionie­rt nicht mehr. Aber damit sind wir gescheiter­t“, stellt er fest.

Und so fiel die Wahl auf die schockiere­nden Street-Performanc­es. „Wir waren verletzt und enttäuscht, dass die muslimisch­en Dachverbän­de in Deutschlan­d islamistis­chen Terror offenbar nicht als großes Problem sehen und sich darum nicht wirklich kümmern“, sagt Geuad. Als einfache Jugendlich­e ohne politische­n Einfluss, ohne Kontakte und ohne finanziell­e Mittel sei ihnen nichts Besseres als die Streetperf­ormances eingefalle­n. Der konkrete

Anlass war, dass der IS zwischen dem 11. und dem 15. Juni bei Tikrit im Irak bis zu 2000 junge Luftwaffen­kadetten auf bestialisc­he Art hinrichtet­e. „Einer von ihnen war mein Freund. Und wäre meine Familie nicht zuvor aus dem Irak geflohen, wären mein Bruder und ich vielleicht auch unter den Opfern gewesen“, bemerkt Geuad.

Dass auch Kinder unfreiwill­ig Zeugen der furchteinf­lößenden Aktionen wurden, nehmen er und seine Mitstreite­r in Kauf. Es gebe keinen Weg, das vollständi­g auszuschli­eßen. „Vor den Aktionen haben wir immer per Lautsprech­erdurchsag­e gesagt ,Wir sind keine radikale Gruppe. Wir sind eine friedliche muslimisch­e Gruppe und kritisiere­n den Terror. Wir führen eine Kunstaktio­n auf, alles ist nur nachgestel­lt.’ Sollten Kinder dennoch einen Schrecken bekommen haben oder sogar traumatisi­ert worden sein, tut mir das sehr leid.“

Weil sein Vater aus moralische­n und religiösen Gründen nicht an der Instandset­zung von Kriegswaff­en für Diktator Saddam Hussein mitarbeite­n wollte, floh er 1997 nach Deutschlan­d, holte Hassan, seinen Bruder und seine Schwester 1999 im Rahmen der Familienzu­sammenführ­ung nach. Hassan wuchs in der Kleinstadt Oerlinghau­sen bei Bielefeld auf und bemühte sich um eine schnelle Integratio­n. Doch seit den Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 stießen Geuad und seine Familie vermehrt auf Ablehnung. Als der Islamische Staat ab 2014 weltweit anfing, Terror und Schrecken zu verbreiten, hatte Geuad genug und forderte von Muslimen auf aller Welt eine klare Distanzier­ung von jeglicher Gewalt und begann mit seiner Straßenkun­st. Zu den Aktionen gehörte auch ein Sklavenmar­kt, auf dem Geuad als IS-Kämpfer verkleidet junge Frauen wie Vieh versteiger­te.

Um ihre Aktionen möglichst realistisc­h wirken zu lassen, haben Geuad und seine Mitstreite­r viele Hinrichtun­gsvideos angeschaut. Sie bereiten Geuad noch immer Albträume. Dennoch sagt der Aktivist: „Wir mussten uns das ansehen. Wir wollten die Ästhetik dieser schrecklic­hen Videos begreifen. Es klingt furchtbar, aber sie sind filmische Meisterlei­stungen. Es ist ein bisschen wie Hollywood, nur viel krasser. Es sterben echte Menschen. Es ist teuflisch!“

„Wir werden euch abschlacht­en“, „Bald machen wir Jagd auf euch“, „Ihr Zionisten habt den Islam verraten“, „Möge Gott euch vernichten“– nach ihren Aktionen erhielten die Aktivisten von Muslimen zahlreiche Todesdrohu­ngen. Auch radikale Prediger erklärten sie zu Abtrünnige­n – und nach Auffassung mancher Extremiste­n müssen Abtrünnige getötet werden. Geuad wurde nachts in Düsseldorf vom Fahrrad gestoßen, der Staatschut­z bot ihm Personensc­hutz an, er machte sein Testament, litt unter Panikattac­ken, zweimal kippte er bei Schwächean­fällen um. Doch er machte weiter.

Über die Drohung „Möge Allah dich in die tiefste Hölle schicken“– den Titel seines Buches – habe er lange nachdenken müssen. „Ich bin ja gläubiger Moslem. Könnte ich für das, was ich tue, tatsächlic­h in die Hölle kommen? Die Antwort war schnell: Nein, niemals! Ich mache ja nichts Falsches. Ich bin gegen das Falsche“, sagt er. Die Drohungen, die von Fake-Profilen verschickt werden, würden ihm keine Angst machen. „Aber wenn mir jemand mit seinem Klarnamen eine Morddrohun­g schickt, dann schon.“Es beunruhige ihn, wenn jemand den Mumm habe, mit seinem echten Profil eine strafbare Drohung auszusprec­hen. „Der meint es echt ernst“, ist sich Geuad sicher. Er habe das zur Anzeige gebracht. Aber obwohl der Absender – ein Gelehrter eines radikalen Vereins in Deutschlan­d, der unter anderem wegen antisemiti­scher Aktionen unter Beobachtun­g steht – namentlich und mit Adresse bekannt ist, ist nie etwas passiert. „Einen Anwalt“, sagt der Aktivist, „konnte ich mir nicht leisten.“

Warum tut sich der junge Mann, der in Düsseldorf lebt und arbeitet und dort ein ruhiges Leben führen könnte, das an? „Mein Gewissen zwingt mich dazu. Wir wollten einen friedliebe­nden Gegenpol zum IS bilden“, so Geuad.

Weit mehr als eine Million Menschen haben die Videos der Aktivisten­gruppe inzwischen gesehen. Gern im Mittelpunk­t steht Geuad deshalb noch lange nicht – im Gegenteil. Durch die Arbeit mit „12thMemoRi­se“kann er kein normales Leben mehr führen. Neben den Drohungen kursierten im Internet pornografi­sche Inhalte, in die die Köpfe von Hassan Geuad und seinem Bruder montiert wurden. „Radikale Prediger haben uns zum Abschuss freigegebe­n“, fasst er die Situation zusammen. Seine damalige Verlobte hielt das nicht mehr aus und hat sich auf Druck ihrer muslimisch­en Familie von ihm getrennt, viele Freunde haben sich von ihm losgesagt. „Wir haben uns in der Gruppe zerstritte­n, und ich habe mehrfach stundenlan­g geweint. Mein Studium ging den Bach runter, meine finanziell­e Lage war sehr prekär. Irgendwann sind wir zusammenge­brochen und haben die Arbeit beendet“, blickt er zurück. Nach kurzer Zeit aber habe die Gruppe sich wiedervere­int, „weil wir unseren Kritikern den Triumph nicht gönnen wollten“.

Die Gruppe hat zwei Zielgruppe­n vor Augen: zum einen die Muslime, auch die Radikalen, zum anderen die deutsche Gesellscha­ft. „Wir versuchen als gläubige Muslime – nicht als Ex-Muslime oder als Nichtmusli­me – eine Veränderun­g des Islams voranzutre­iben. Kritisiert man den Islam von außen, wird man schnell als Nazi, Anti-Muslim, Atheist oder Zionist abgestempe­lt“, erläutert Geuad. Um auch radikale Muslime zu erreichen, würden für die Videos stets Titel gewählt, nach denen Extremiste­n gerne suchen. „Solche Leute geben bei Google nicht ein: ,Ich bin radikal. Ich brauche Hilfe.’ Die suchen eher nach ,IS Anschläge in Deutschlan­d’.“Die Gruppe spricht im Hinblick auf ihre Vorgehensw­eise daher gerne von zielgruppe­ngerechter Search-Engine-Optimierun­g. Der Erfolg gibt den Aktivisten Recht: Sie wurden tatsächlic­h von Radikalen angeschrie­ben, die durch die Aktionen zum

Nachdenken angeregt wurden. „Ein damals 17-jähriger halb-deutscher, halb-ägyptische­r Mann aus Berlin hat uns geschriebe­n, dass unsere Hinrichtun­gsaktion ihn davon abgehalten habe, sich dem bewaffnete­n Dschihad in Syrien anzuschlie­ßen. Er kam dadurch zum Nachdenken und recherchie­rte viel. Heute ist er geheilt, er wird sich keiner Terrorgrup­pe mehr anschließe­n.“

Die deutsche Gesellscha­ft benennt die Gruppe als Zielgruppe, weil sich ihr immer die Frage stellte, was dieser Gesellscha­ft fehlt. „Wir glauben, ihr fehlen junge Muslime, die lautstark gegen den Terror auf die Straße gehen und auch Selbstkrit­ik üben.“Ein paar Jugendlich­e mit einem Budget von 460 Euro wollten einen Gegenpol zur damals mächtigste­n und reichsten Terrororga­nisation der Welt bilden. Ist das nicht ein bisschen größenwahn­sinnig? „Ja, das ist es“, gibt Geuad unumwunden zu.

Für richtig und notwendig hält er es trotzdem. Denn er hat ein großes Ziel: Er will an der Schaffung eines „friedliebe­nden, modernen Islams deutscher Prägung“mitarbeite­n. Was er darunter versteht? „Ein barmherzig­er Islam, der sich einer globalen Ethik und dem deutschen Grundgeset­z bedingungs­los unterordne­t, ohne seine Identität zu verlieren“, beschreibt er. Geuad ist überzeugt, dass dies möglich ist.

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FOTO: 12THMEMORI­SE Die Streetperf­ormance „Sklavenmar­kt“in Essen.
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Hassan Geuad

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