Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Performance gegen Terror
Der gläubige Muslim Hassan Geuad macht mit brutal anmutenden Straßenaktionen auf die Gefahren des Islamismus aufmerksam. Von Extremisten erhält er dafür Morddrohungen. Doch der Aktivist lässt sich nicht einschüchtern.
Am helllichten Tag treiben in schwarze Kleidung gehüllte Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Statt (IS) zwei Männer durch die Fußgängerzone in Essen. Sie bedrohen die Gefangenen in der orangefarbenen Sträflingskleidung mit einem großen Krummsäbel und einer Pistole und zwingen sie mit auf den Rücken gefesselten Händen vor einem Einkaufszentrum niederzuknien. Verängstigte Kinder rennen weg, andere Passanten bleiben angewidert stehen. Dann hallt ein Schuss durch die gut besuchte Einkaufsstraße. Einer der Gefangenen wird mit einem Schuss in den Hinterkopf hingerichtet, dem anderen wird mit dem Säbel die Kehle durchgeschnitten. Beide Männer sinken auf die Pflastersteine.
Was sich im Herbst 2014 mitten in der Essener Fußgängerzone zutrug, war kein Terroranschlag des IS, sondern nur Theater. Mit schockierenden Streetperformances setzt sich die deutsche Aktivisten-Gruppe „12thMemoRise“rund um den gläubigen Muslim Hassan Geuad gegen islamistischen Terror ein. Jetzt ist sein Buch „Möge Allah dich in die tiefste Hölle schicken“erschienen. Darin fordert der Schiit einen modernen Islam deutscher Prägung.
„Solche Bilder müssen wir sehen, damit wir begreifen, was außerhalb Deutschlands passiert“, ruft Hassan Geuad den schockierten Passanten mit sich überschlagender Stimme zu, kurz bevor seine Mitstreiter ihre Gefangenen in der Essener Fußgängerzone symbolisch hinrichten. Mit ihrer brutalen Straßenkunst wollen Geuad, sein Bruder Muhammed und seine Freunde provozieren und zeigen, dass die gespielten Szenen auch in Deutschland wahr werden könnten. Ein schwarzes, an die Fahnen des IS erinnerndes Banner mit der Aufschrift „Ausgebildet in Bonn, Braunschweig, Wuppertal“weist auf die Gefahr der Radikalisierung junger Muslime in Deutschland hin.
Gut zwei Monate nach der Scheinhinrichtung in der Essener Fußgängerzone erschießt der Tunesier Anis Amri in Berlin einen Lastwagenfahrer, rast mit dem gestohlenen Sattelschlepper in einen Weihnachtsmarkt und tötet so elf weitere Menschen. Zuvor hatte der Attentäter sich in Berlin radikalisiert und sich zum IS bekannt.
Hassan Geuad befürchtet, dass ein Anschlag durch in Deutschland radikalisierte Salafisten jederzeit wieder passieren könnte. „Die Salafisten sind im Internet und auf der Straße sehr offensiv. Im schlimmsten Fall überzeugen sie Jugendliche, zu extremistischen Tätern zu werden“, sagt der 30-Jährige. Zwar glaubt er, dass der IS als Gruppe besiegt sei, doch: „Die Ideologie des radikalen politischen Islams lebt weiter. Sie ist in den vergangenen 50 Jahren immer wieder unter verschiedenen Namen aufgetreten und hat auch Terroranschläge verübt“, so Geuad, der bei Anschlägen im Irak selbst drei Freunde und einen Cousin verloren hat.
Für den Mann mit der deutschen Staatsbürgerschaft hat jeder islamistische Terroranschlag katastrophale Folgen. „Sie führen dazu, dass bei vielen Menschen im Kopf die Gleichung entsteht: Muslime = Gefahr. Ich kämpfe dafür, dass diese Gleichung nicht mehr aufgeht“, sagt Geuad. Die Angst und Verurteilung der Menschen kann er nachvollziehen, „denn die Menschen verstehen einfach nicht: Wie kann ein Mensch plötzlich einfach wahllos auf Menschen losgehen, sich in die Luft jagen und sich auf eine Religion berufen?“
Nach den ersten widerlichen Terroranschlägen des IS habe er sich gefragt: Was kann ich in Deutschland machen, um die Leute vor Terroranschlägen zu warnen? „Denn die in Deutschland aktiven Salafisten sind eine konkrete Gefahr. Unter ihnen sind auch Konvertiten, die man nicht einfach so abschieben kann.“Die Straßenaktionen seien nicht die erste Wahl gewesen. Zunächst sei die Gruppe auf die islamischen Dachverbände zugegangen und habe mit ihnen eine Großdemo organisieren wollen. „Wir wollten zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime gegen Terror ist und dafür auch auf die Straße geht. Die deutsche Gesellschaft sollte sehen: Das Argument, alle Muslime sind irgendwie Terroristen, funktioniert nicht mehr. Aber damit sind wir gescheitert“, stellt er fest.
Und so fiel die Wahl auf die schockierenden Street-Performances. „Wir waren verletzt und enttäuscht, dass die muslimischen Dachverbände in Deutschland islamistischen Terror offenbar nicht als großes Problem sehen und sich darum nicht wirklich kümmern“, sagt Geuad. Als einfache Jugendliche ohne politischen Einfluss, ohne Kontakte und ohne finanzielle Mittel sei ihnen nichts Besseres als die Streetperformances eingefallen. Der konkrete
Anlass war, dass der IS zwischen dem 11. und dem 15. Juni bei Tikrit im Irak bis zu 2000 junge Luftwaffenkadetten auf bestialische Art hinrichtete. „Einer von ihnen war mein Freund. Und wäre meine Familie nicht zuvor aus dem Irak geflohen, wären mein Bruder und ich vielleicht auch unter den Opfern gewesen“, bemerkt Geuad.
Dass auch Kinder unfreiwillig Zeugen der furchteinflößenden Aktionen wurden, nehmen er und seine Mitstreiter in Kauf. Es gebe keinen Weg, das vollständig auszuschließen. „Vor den Aktionen haben wir immer per Lautsprecherdurchsage gesagt ,Wir sind keine radikale Gruppe. Wir sind eine friedliche muslimische Gruppe und kritisieren den Terror. Wir führen eine Kunstaktion auf, alles ist nur nachgestellt.’ Sollten Kinder dennoch einen Schrecken bekommen haben oder sogar traumatisiert worden sein, tut mir das sehr leid.“
Weil sein Vater aus moralischen und religiösen Gründen nicht an der Instandsetzung von Kriegswaffen für Diktator Saddam Hussein mitarbeiten wollte, floh er 1997 nach Deutschland, holte Hassan, seinen Bruder und seine Schwester 1999 im Rahmen der Familienzusammenführung nach. Hassan wuchs in der Kleinstadt Oerlinghausen bei Bielefeld auf und bemühte sich um eine schnelle Integration. Doch seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 stießen Geuad und seine Familie vermehrt auf Ablehnung. Als der Islamische Staat ab 2014 weltweit anfing, Terror und Schrecken zu verbreiten, hatte Geuad genug und forderte von Muslimen auf aller Welt eine klare Distanzierung von jeglicher Gewalt und begann mit seiner Straßenkunst. Zu den Aktionen gehörte auch ein Sklavenmarkt, auf dem Geuad als IS-Kämpfer verkleidet junge Frauen wie Vieh versteigerte.
Um ihre Aktionen möglichst realistisch wirken zu lassen, haben Geuad und seine Mitstreiter viele Hinrichtungsvideos angeschaut. Sie bereiten Geuad noch immer Albträume. Dennoch sagt der Aktivist: „Wir mussten uns das ansehen. Wir wollten die Ästhetik dieser schrecklichen Videos begreifen. Es klingt furchtbar, aber sie sind filmische Meisterleistungen. Es ist ein bisschen wie Hollywood, nur viel krasser. Es sterben echte Menschen. Es ist teuflisch!“
„Wir werden euch abschlachten“, „Bald machen wir Jagd auf euch“, „Ihr Zionisten habt den Islam verraten“, „Möge Gott euch vernichten“– nach ihren Aktionen erhielten die Aktivisten von Muslimen zahlreiche Todesdrohungen. Auch radikale Prediger erklärten sie zu Abtrünnigen – und nach Auffassung mancher Extremisten müssen Abtrünnige getötet werden. Geuad wurde nachts in Düsseldorf vom Fahrrad gestoßen, der Staatschutz bot ihm Personenschutz an, er machte sein Testament, litt unter Panikattacken, zweimal kippte er bei Schwächeanfällen um. Doch er machte weiter.
Über die Drohung „Möge Allah dich in die tiefste Hölle schicken“– den Titel seines Buches – habe er lange nachdenken müssen. „Ich bin ja gläubiger Moslem. Könnte ich für das, was ich tue, tatsächlich in die Hölle kommen? Die Antwort war schnell: Nein, niemals! Ich mache ja nichts Falsches. Ich bin gegen das Falsche“, sagt er. Die Drohungen, die von Fake-Profilen verschickt werden, würden ihm keine Angst machen. „Aber wenn mir jemand mit seinem Klarnamen eine Morddrohung schickt, dann schon.“Es beunruhige ihn, wenn jemand den Mumm habe, mit seinem echten Profil eine strafbare Drohung auszusprechen. „Der meint es echt ernst“, ist sich Geuad sicher. Er habe das zur Anzeige gebracht. Aber obwohl der Absender – ein Gelehrter eines radikalen Vereins in Deutschland, der unter anderem wegen antisemitischer Aktionen unter Beobachtung steht – namentlich und mit Adresse bekannt ist, ist nie etwas passiert. „Einen Anwalt“, sagt der Aktivist, „konnte ich mir nicht leisten.“
Warum tut sich der junge Mann, der in Düsseldorf lebt und arbeitet und dort ein ruhiges Leben führen könnte, das an? „Mein Gewissen zwingt mich dazu. Wir wollten einen friedliebenden Gegenpol zum IS bilden“, so Geuad.
Weit mehr als eine Million Menschen haben die Videos der Aktivistengruppe inzwischen gesehen. Gern im Mittelpunkt steht Geuad deshalb noch lange nicht – im Gegenteil. Durch die Arbeit mit „12thMemoRise“kann er kein normales Leben mehr führen. Neben den Drohungen kursierten im Internet pornografische Inhalte, in die die Köpfe von Hassan Geuad und seinem Bruder montiert wurden. „Radikale Prediger haben uns zum Abschuss freigegeben“, fasst er die Situation zusammen. Seine damalige Verlobte hielt das nicht mehr aus und hat sich auf Druck ihrer muslimischen Familie von ihm getrennt, viele Freunde haben sich von ihm losgesagt. „Wir haben uns in der Gruppe zerstritten, und ich habe mehrfach stundenlang geweint. Mein Studium ging den Bach runter, meine finanzielle Lage war sehr prekär. Irgendwann sind wir zusammengebrochen und haben die Arbeit beendet“, blickt er zurück. Nach kurzer Zeit aber habe die Gruppe sich wiedervereint, „weil wir unseren Kritikern den Triumph nicht gönnen wollten“.
Die Gruppe hat zwei Zielgruppen vor Augen: zum einen die Muslime, auch die Radikalen, zum anderen die deutsche Gesellschaft. „Wir versuchen als gläubige Muslime – nicht als Ex-Muslime oder als Nichtmuslime – eine Veränderung des Islams voranzutreiben. Kritisiert man den Islam von außen, wird man schnell als Nazi, Anti-Muslim, Atheist oder Zionist abgestempelt“, erläutert Geuad. Um auch radikale Muslime zu erreichen, würden für die Videos stets Titel gewählt, nach denen Extremisten gerne suchen. „Solche Leute geben bei Google nicht ein: ,Ich bin radikal. Ich brauche Hilfe.’ Die suchen eher nach ,IS Anschläge in Deutschland’.“Die Gruppe spricht im Hinblick auf ihre Vorgehensweise daher gerne von zielgruppengerechter Search-Engine-Optimierung. Der Erfolg gibt den Aktivisten Recht: Sie wurden tatsächlich von Radikalen angeschrieben, die durch die Aktionen zum
Nachdenken angeregt wurden. „Ein damals 17-jähriger halb-deutscher, halb-ägyptischer Mann aus Berlin hat uns geschrieben, dass unsere Hinrichtungsaktion ihn davon abgehalten habe, sich dem bewaffneten Dschihad in Syrien anzuschließen. Er kam dadurch zum Nachdenken und recherchierte viel. Heute ist er geheilt, er wird sich keiner Terrorgruppe mehr anschließen.“
Die deutsche Gesellschaft benennt die Gruppe als Zielgruppe, weil sich ihr immer die Frage stellte, was dieser Gesellschaft fehlt. „Wir glauben, ihr fehlen junge Muslime, die lautstark gegen den Terror auf die Straße gehen und auch Selbstkritik üben.“Ein paar Jugendliche mit einem Budget von 460 Euro wollten einen Gegenpol zur damals mächtigsten und reichsten Terrororganisation der Welt bilden. Ist das nicht ein bisschen größenwahnsinnig? „Ja, das ist es“, gibt Geuad unumwunden zu.
Für richtig und notwendig hält er es trotzdem. Denn er hat ein großes Ziel: Er will an der Schaffung eines „friedliebenden, modernen Islams deutscher Prägung“mitarbeiten. Was er darunter versteht? „Ein barmherziger Islam, der sich einer globalen Ethik und dem deutschen Grundgesetz bedingungslos unterordnet, ohne seine Identität zu verlieren“, beschreibt er. Geuad ist überzeugt, dass dies möglich ist.