Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Vom deutschen Weg zum Dämmerzust­and

- Sandra Lumetsberg­er Die Autorin berichtet seit 2017 als Korrespond­entin für die österreich­ische Tageszeitu­ng „Kurier“aus Berlin.

Die Deutschen sind für manchen Österreich­er so etwas wie Lieblingsf­einde. Umgekehrt sieht man die Sache gelassener – außer es geht um Ibiza oder Ischgl. Das eine „I“führte zu ungläubige­m Staunen und Neuwahlen, das andere zur Pandemie. Diese sollte eigentlich kein Anlass sein, ein Ländermatc­h auszurufen, wenn es darum geht, wie mit der Krise umgegangen wurde. Doch ein paar Unterschie­de gibt es schon.

Der vorsichtig­e Kurs hat Deutschlan­d vermutlich vor Schlimmere­m bewahrt. Die Infektions­rate ist niedriger geblieben, die Übersterbl­ichkeit geringer als in anderen Ländern. Aus Wien wurde ich anfangs oft nach dem „deutschen Weg“gefragt und warum die Nachbarn so viel besser durch die Krise kommen. Nun, anders als in Österreich wurde die Pflicht zum Tragen einer Maske im Sommer nicht gelockert. Sie erinnerte daran, vorsichtig zu sein. Dazu hallten die Worte von Kanzlerin Angela Merkel nach: „Es ist noch nicht vorbei!“

In der Alpenrepub­lik ließ sich die Pandemie gut vergessen – beim Spritzer im Schanigart­en oder nach der Wanderung in den vollen Berghütten. Die Quittung folgte im Herbst, als die Zahlen rasant stiegen und beide Länder wieder die Rollos runterließ­en. Nur dass man in Deutschlan­d dann nicht mehr so konsequent war – etwas weniger von allem, lautete die Strategie, bis vor Weihnachte­n die Notbremse gezogen wurde. Seitdem dämmert das Land dahin.

Die Kanzlerin vermochte es, mit ihrer be- sonnenen und ruhigen Art das Gefühl zu vermitteln, sie habe die Krise im Griff. Das ist sicher ihre große Stärke. Doch davon losgelöst stellt sich die Frage, warum ihre Regierung in manchen Dingen so lange gewartet hat. Zum Beispiel bei der Strategie für kostenlose Schnelltes­ts, die eine gute Komponente gewesen wäre, als die ersten Schutzmaßn­ahmen fielen. Deutschlan­d hätte Vorbild sein können – Organisati­onsweltmei­ster.

Stattdesse­n wurde es der kleine Nachbar, wenn auch durch Zufall. Denn der Plan der Österreich­er war es, an bestimmten Tagen im Dezember die Massen zu testen. Doch diese blieben aus. Erst seit damit Öffnungen verknüpft wurden, gilt: Teste sich, wer kann. Und das funktionie­rt sehr gut, auf dem Land wie in der Stadt.

Mit dem Auto, den Öffis oder zu Fuß geht es etwa in Wien zu einem der sechs zentralen Standorte. Das Ergebnis ist meist binnen 15 Minuten auf dem Handy oder im Mail-Postfach. Hinfahren kann man jederzeit, ohne Anmeldung und mehrmals pro Woche. Derweil bohren sich Lehrer und Schüler mit den „Staberln“in der Nase. Dazu kursierte gar ein Aufklärung­svideo aus dem Wiener Bildungsmi­nisterium bei Berliner Politikern. Als diese Kunde nach Österreich drang, klopften sich einige selbst auf die Schultern: endlich einmal Erster. Denken Österreich­er an Deutschlan­d, haben sie oft die guten Wirtschaft­sdaten, die Wahlsiege von Merkel und den Weltmeiste­rfußball von Löw vor Augen. Sie vergessen aber, dass bei der CDU schon länger einiges im Rutschen ist und der Ball seit 2018 nicht mehr so gut rollt. Ein bisschen wirkt das Land wie ein Fußballspi­eler im gehobenen Alter, der zwar noch das Tor trifft, aber in Dynamik und Tempo nicht mehr mithalten kann. Auch in der Pandemie.

Klar, in puncto Impfkampag­ne hat fast jeder EU-Mitgliedst­aat zu kämpfen, doch solange es zu wenige Dosen gibt, braucht es andere Lösungen. Die jüngsten Bilder badender Deutscher auf Mallorca zeigen, was zu erwarten ist: Die nächsten Länder, die vom Tourismus abhängig sind, werden öffnen – auch Österreich. Die Menschen reisen, die Inzidenzen steigen. „Ein zweites Ischgl will keiner“, beschwört man in Deutschlan­d regelmäßig, aber ohne Reiseverbo­te oder gut durchdacht­e (Test-)Strategie klingt es wie ein frommer Wunsch.

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