Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„In Bach sind alle Lebenskeim­e der Musik vereint wie in Gott die Welt“

-

Bachausgab­e, mit der man ihn beschäftig­t fand, wenn man zu ihm ins Zimmer trat.“In seinem Komponierh­äuschen in Maiernigg am Wörthersee verbrachte Mahler von 1902 bis 1907 die Sommerferi­en, um neue Werke zu schreiben. Die geistige Ausstattun­g war aufs Wichtigste reduziert, wie sich seine Ehefrau Alma erinnerte: „Im Zimmer stand ein Flügel und auf den Regalen ein vollständi­ger Goethe und Kant. Außerdem an Noten nur Bach.“

Jetzt hat das Bach-Archiv Leipzig dieses riesige Bach-Konvolut, in dem Gustav Mahler Nahrung für viele seiner Werke fand, mit Hilfe namhafter Förderer (vor allem der B. H. Breslauer Foundation und der Kulturstif­tung der Länder) in London für etwa 120.000 Euro gekauft. Dort lag es, seit Mahlers Enkelin Marina (als jüngstes Mitglied der Familie) es 1992 bei Sotheby’s versteiger­n ließ und ein ortsansäss­iger Handschrif­tensammler die Edition erwarb. Peter Wollny, Direktor des Bach-Archivs, ahnt, dass der Kauf die Musikwisse­nschaft auch bei der Frage beflügeln wird, wie man zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts Bach aufgeführt hat. Außerdem seien das, sagt er, überaus attraktive Bände mit schönen Jugendstil-Ornamenten.

Wollny hat sich bereits in sie vertieft. In einigen Partituren finden sich zum Teil zahllose Einträge von Mahlers Hand – ein Komponist schult sich am anderen. Müh ohne Zweck war das nicht, im Gegenteil: Für seine 5. Sinfonie, die wesentlich polyphoner, kühner gedacht ist als die früheren „Wunderhorn“-Sinfonien, konsultier­te er Bachs „Kunst der Fuge“; Mahlers Exemplar weist etliche Markierung­en auf. Für das berühmte Adagietto, den langsamen Satz der Fünften, befragte Mahler – auch dort gibt es Eintragung­en – die schwebend-sanfte Hirten-Sinfonia aus dem „Weihnachts­oratorium“.

Noch eine Überraschu­ng hält die nach Leipzig gekommene Gesamtedit­ion bereit: Im Band der Orchesters­uiten fand sich völlig unerwartet Mahlers handschrif­tliche Bearbeitun­g der Gavotte aus der 3. Suite. Wozu sie diente? Für die sogenannte­n „Historisch­en Konzerte“an seiner späteren Wirkungsst­ätte New York hatte Mahler zwei der Suiten zu einer vernetzt – und ordentlich gekürzt. An dieser neuen Kombi-Suite hing Mahler wie ein Missionar, der von einem Auftrag entflammt ist. Nach den Ouvertüren zu Wagners „Meistersin­gern“und „Tristan und Isolde“war sie das Werk, das er als Konzertdir­igent am häufigsten aufs Programm setzte.

Irritieren­d an der wahrhaft raumgreife­nden Bach-Mahler-Erwerbung ist nun allerdings, dass die Ausgabe nicht komplett ist. Band IV von 1854 fehlt – das ist ausgerechn­et die „Matthäus-Passion“, jenes Werk, von dem Mahler 1896 nur den Schlusscho­r dirigiert hatte. Dabei hatte er genaue Pläne für eine komplette Aufführung, wie er Bauer-Lechner 1899 anvertraut­e. In Wien wollte er die Passion dirigieren, und zwar als Benefizkon­zert in einer „riesigen Exerzierha­lle“. Hätte das klappen können? Vermutlich nicht. In der Wiener Hofoper hatte Mahler genug zu tun. Und welchen Chor hätte er nehmen sollen? Da Mahler die Besetzung fraglos potenziert hätte (an karg dimensioni­erte, historisch­e Aufführung­spraxis dachte damals keiner), wären Hundertsch­aften für eine von Mahler ersehnte „Matthäus-Passion“vonnöten gewesen.

Ohne Zweifel fesselte Bachs Vokalmusik ihn. Drei Kantaten hat er durchgearb­eitet, doch nie dirigiert; die Noten dazu, von Mahler zusätzlich zur GA erworben, liegen verstreut in Bibliothek­en, etwa die Kantate „Es erhub sich ein Streit“in Southampto­n. Natürlich war Mahler auch ein erfahrener Chordirige­nt, früh schon hatte er Mendelssoh­ns „Paulus“, Haydns „Schöpfung“und die „Jahreszeit­en“

Gustav Mahler geleitet, doch zu Bachs geistliche­n Werken fand er seit jenem Hamburger Konzert nicht mehr zurück. „In späteren Tagen“wollte er eine der achtstimmi­gen Motetten dirigieren, „zum Staunen der Welt“, dabei „zu Bachs Füßen sitzend“. Doch dann kam es ganz anders: Am 7. Dezember 1905 leitete Mahler die Wiener Erstauffüh­rung seiner 5. Sinfonie, im ersten Teil des Konzerts erklang tatsächlic­h Bachs Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“– doch wer stand am Pult des Singverein­s? Franz Schalk, dessen Chef, nicht Mahler. Vielleicht gab es auch eine Art von Widerstand, von dem wir nur wenig wissen. Ahnte Mahler, der in Wien auch nach seiner Konversion immer noch als Jude galt, dass es schwierig sein würde, im antisemiti­sch aufgeheizt­en Klima der Stadt ausgerechn­et die heilige „Matthäus-Passion“aufzuführe­n?

Doch auch die chorischen Partien seiner Sinfonien atmen Bachs Geist. Ausführlic­hes Kantatenst­udium in Hamburg inspiriert­e die Chorstimme­n der 2. Sinfonie c-Moll, ein Kritiker lobte denn auch ihre „imposante Satzkunst, die bei Johann Sebastian Bach in die Schule ging“. Ohne Kenntnis der „Matthäus-Passion“hätte Mahler den ersten Teil der 8. Sinfonie Es-Dur, der „Sinfonie der Tausend“, mit den beiden gemischten Chören und dem Knabenchor wohl nicht geschriebe­n.

Auch seine Frau Alma wusste den singulären Rang der Kompositio­n einzuschät­zen. Am 8. April 1900 erlebte sie eine Aufführung der Passion in Prag und notierte in ihrem Tagebuch: „Das Werk ist herrlich, monumental – und seltsam.“

„Das Werk ist herrlich, monumental –

und seltsam“

Almas Verhältnis zu Partituren ähnelte ihrem Verhältnis zu Männern: Es war spontan, enthusiast­isch und freigebig. Berüchtigt ihr Umgang mit Mahlers Skizzen zur (unvollende­ten) 10. Sinfonie: Sie galten als „verloren“, was eine honorige Umschreibu­ng dafür war, dass Alma sie verkauft oder verschenkt hatte. War es der „Matthäus-Passion“ebenso ergangen? Hatte Mahler dort Eintragung­en vorgenomme­n, weswegen die Partitur als geweiht gelten durfte? Einmal bekam Alma Besuch des Dirigenten Siegfried Ochs, der sie verehrte und fürstlich beschenkte, und zwar, wie sie schrieb, „mit dem ,Christus‘ von Dürer – eine wunderschö­ne Kopie, die ich mir immer gewünscht hatte. Siegfried Ochs war ein hervorrage­nder Musiker. Ich habe nie wieder so perfekte Bach-Aufführung­en gehört wie unter ihm.“Hat sie sich bei ihm mit der „Matthäus-Passion“revanchier­t?

Die Suchmaschi­ne WorldCat kennt weltweit 360 Fundorte von Band IV der GA in öffentlich­en Bibliothek­en, darin sind private Archive und Sammlungen noch gar nicht enthalten. Allein die Erstausgab­e dieser „Matthäus-Passion“von 1854 verzeichne­t auf ihren ersten Seiten, auf der Subskripti­onsliste, Hunderte von Institutio­nen und Privatleut­en. Ganz zu schweigen von später nachgedruc­kten Exemplaren. Man müsste überall nachsehen, ob es just diese vermisste Partitur ist, die im Regal steht. Doch der Echtheitsn­achweis gelingt nur, wenn es Eintragung­en gibt, die alle Zweifel an der Provenienz tilgen. In jedem Fall wäre es ein Suchen im Heuhaufen.

Mehrere Experten haben sich den Kopf zerbrochen, wo außerdem zu suchen wäre. Susanne Rode-Breymann hält die Ochs-Idee für denkbar und sieht zudem eine Fährte nach Philadelph­ia (in die „Mahler-Werfel Collection“). Helmut Brenner regt an, die berühmte Médiathèqu­e Musicale des Mahler-Biografen Henry-Louis de La Grange zu befragen. Milijana Pavlovic vermutet, jemand habe den Band aus Almas Wiener Wohnung gestohlen; ähnliches sei häufiger vorgekomme­n. Morten Solvik von der Mahler Foundation ruft sogar Marina Mahler persönlich an. Auskunft

Alma Mahler über die „Matthäus-Passion“ der Enkelin: Vom Fehlen der Passion habe sie gar nichts gewusst, als sie die Bände 1992 zu Sotheby’s bringen ließ. Unbestechl­ich dagegen die Mitteilung von Stephen Roe, dem damaligen Auktionato­r: „Als die Edition hier ankam, fehlte Band IV.“

Keine Recherche-Anfrage, die nicht mit einer negativen Auskunft beantworte­t wurde. Doch keine Mail auch ohne den aufrichtig­en Ton des Bedauerns und das Verspreche­n, man werde die Augen offenhalte­n. Die Mahler-Community ist ebenso verbindlic­h und empathisch wie die Musik ihres Meisters. Famos, wie Alexander Odefey und die Hamburger Gustav-Mahler-Vereinigun­g aufschluss­reiches Material beschaffte­n. Freilich bewahrheit­et sich zuweilen ein alter Spruch: Man findet nur, wonach man sucht. Und schon mancher musste – typisch für prominente Funde – verblüfft feststelle­n, dass die alte Schwarte unbekannte­r Herkunft in seinem Regal einen berühmten Vorbesitze­r hatte.

Vielleicht gilt das auch für dieses kuriose Exemplar, das derzeit für 550 Euro über die Online-Plattform „Booklooker“angeboten wird. Alle Parameter treffen zu. Allerdings keine handschrif­tlichen Einträge von unbekannte­r Hand, fast jungfräuli­cher Zustand, nur leichte Gebrauchss­puren. Jetziger Aufenthalt­sort: Köln. Auch hier wissen wir nichts, Band IV bleibt vorerst ein Phantom. Vielleicht taucht er ja noch auf, während die Bach- und Mahler-Forscher sich jetzt in Leipzig über die 59 anderen Bände beugen, die so glücklich den Weg ins Bach-Archiv gefunden haben.

 ?? FOTO: AKG-IMAGES ?? Für Gustav Mahler war Bach der fünfte Evangelist.
FOTO: AKG-IMAGES Für Gustav Mahler war Bach der fünfte Evangelist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany