Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Beuys hatte von nichts eine Ahnung“

Der 81-Jährige leistet seit den 1950er-Jahren künstleris­chen Widerstand. Jetzt gibt es seine erste Einzelauss­tellung bei Philara.

- HELGA MEISTER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Ulrichs, Sie haben eine diebische Freude, die Kunst mit dem Leben gleichzuse­tzen, aber den Verfall im Tod gleich mitzudenke­n und sich das „Ende“auf Ihr Augenlid zu tätowieren, bis es verblichen ist. Noch vor Thomas Schütte haben Sie sich Ihren Grabstein entworfen. Was wollen Sie?

ULRICHS Ich habe schon immer versucht, ich zu bleiben. Nach dem Abitur 1959 in Bremen kam die berühmte Frage: Was willst du werden? Ich wollte kein Fachmann werden, kein Schubladen­denken. Ich wollte der ganze Schrank sein.

Ich-Sein als erste Prämisse also? Was sagte Ihre Mutter dazu?

ULRICHS Sie schickte mich zu einem Berufsbera­ter. Wenn einer selbst nicht weiß, was er tun soll, wird er Berufsbera­ter. Ich las aber schon als Schüler viel, auch in der Volksbüche­rei. Ich schaute mir die ersten Dada-Bücher an, die über den Arche-Verlag in Zürich als Sammlung Horizont erschienen sind. Genauso nahm ich das Bauhaus in die Hand. Da entdeckte ich zwei Seelen in meiner Brust. Die eine Richtung war Konstrukti­vismus, Bauhaus, de Stijl, die andere Dada. Adorno würde sagen: Die Aufgabe von Kunst ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen. Und das Gegenteil ist, Ordnung in das Chaos zu bringen. Beides hat mich fasziniert.

Warum haben Sie dann sechs Jahre lang Architektu­r studiert?

ULRICHS Um meine Mutter zu beruhigen. Ich hätte ihr nicht sagen können, wie ich als Künstler Geld verdienen würde, denn meine Mutter hat unter sehr schwierige­n materielle­n Bedingunge­n als Sekretärin und Stenotypis­tin gearbeitet. Nach dem Vorexamen 1966 machte ich eine Kunstpause.

Und wurden zunächst Dichter?

ULRICHS Eugen Gomringer prägte den Begriff konkrete Poesie, und Max Bill sprach parallel zu Theo van Doesburg von der Konkreten Kunst. In dieser Bewegung habe ich mich aufgehalte­n, habe selber Texte auf der alten Torpedo-Schreibmas­chine meiner Mutter getippt, habe sie im Asta der TH Hannover vervielfäl­tigt und aus den Telefonbüc­hern Adressen herausgesu­cht. Max Bense, Elisabeth Walther, Helmut Heißenbütt­el erhielten Texte von mir. 1967 machten Max Bense und Elisabeth Walther, seine spätere Frau, die Edition Rot. Da erschien ein offizielle­r Gedichtban­d von mir. 1969 bekam ich eine Gastprofes­sur im Bereich Konkreter Poesie und Spracharbe­it. Bis dahin hatte ich eine ganze Reihe von Ausstellun­gen, aber habe mich durchgehun­gert, Softeis verkauft und als Gesprächsp­artner einer alten Dame im Haushalt gearbeitet.

1969 schufen Sie Ihren Grabstein mit dem paradoxen Text: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“Sie lieben wie Mephisto die doppelte Verneinung?

ULRICHS Das sind von mir nicht erfundene, aber angewandte rhetorisch­e Figuren. Viele Aphoristik­er wie Georg Christoph Lichtenber­g griffen zu solchen Mitteln.

Sehen Sie sich als Aphoristik­er?

ULRICHS Wenn man Aphorismen auch bei Bildern zulässt, dann ja. Man muss Gedanken zuspitzen wie einen Bleistift. Die Pointe muss kurz sein.

1972 gründete Johannes Rau einen Ableger der Kunstakade­mie in Münster, Sie wurden für 33 Jahre Professor. Hatten Sie Kontakt zu Joseph Beuys?

ULRICHS Ich habe aus der Konkursmas­se von Beuys sehr viele Studenten übernommen. Beuys benutzte alle abgelehnte­n Studenten als Stimmvieh, aber kümmerte sich nur um seine Lieblingsl­eute.

Wie standen Sie als Konzept- und Aktionskün­stler zu ihm?

ULRICHS Beuys hatte zu allem eine Meinung, aber von nichts eine Ahnung. Es gibt einen Film von 1970, wo er sich mit Max Bense, Arnold Gehlen, Max Bill und Wieland Schmied über Kunst und Antikunst gestritten hat. Da hat er nur herumgefuc­htelt. Er war ein Pater Leppich der Kunst, eine Art US-amerikanis­cher Erweckungs­prediger Billy Graham, ein Volkspredi­ger. Seine Philosophi­e ist ein Konglomera­t aus Steiner, Allan Kaprow, Sprüchen der Dadaisten. „Jeder Mensch ist ein Künstler“haben damals alle gesagt, ich auch. Das war Allgemeing­ut. Aber er hat es popularisi­ert.

Sie wollten sich 1961 selbst ausstellen, wurden aber ausjuriert.

ULRICHS Goebbels hat in seiner Sportpalas­trede 1943 nach dem totalen Krieg gefragt, ich habe daraus die Totalkunst gemacht. Man muss vom Schlagwort zum Schlagbild kommen. Wenn man Parolen in die Welt setzt, müssen sie knapp sein wie Werbesprüc­he. Der erweiterte Kunstbegri­ff ist eher didaktisch.

Sie haben sich am Wettbewerb zur Erinnerung an den Volksaufst­and von 1953 in Berlin beteiligt, aber nicht gewonnen. Den Entwurf, das „Denkmal der gestürzten Denkmäler“, zeigen Sie bei Philara. Wie halten Sie es mit Erinnerung­sobjekten?

ULRICHS Ich habe originale Köpfe von Lenin und Marx auf Flohmärkte­n in Ostberlin, Budapest, Minsk und sogar in Istanbul zusammenge­kauft. Wenn die Geschichte revidiert wird, sollte man die Dinge einfach versammeln und heil lassen, aber nicht zerstören, vergraben oder einschmelz­en.

In Ihrer „Interpreta­tion“von Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technische­n Reproduzie­rbarkeit“verfällt die Aura, in der letzten Kopie des Covers sieht man nichts mehr. Ist die Arbeit eine Persiflage auf Benjamin?

ULRICHS Ja und nein. Ich habe ihn ja gelesen. Der Text wurde und wird überinterp­retiert. In der Abfolge von 100 Kopien verflüchti­gt er sich immer mehr.

Berühmt ist ihr Konterfei mit Blindenbri­lle, weißem Stock, gelber Armbinde und Brustschil­d „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“, 1975 auf dem Kölner Kunstmarkt. Wie finden Sie die Situation heute?

ULRICHS Schrecklic­h. Man hat ja viel zu viel Respekt vor Sammlern. Das sind Männer mit viel Geld und wenig Ahnung. Ich gehe manchmal aus Spaß zu Auktionen der Villa Grisebach und guck mir das an. Es gibt Tausende von Uecker- und Richter-Werken. Jedes einzelne Objekt ist ja ganz schön. Aber wenn man das hochrechne­t, ist es furchtbar. Alle Museen gehören ja auch mir, sie sind Allgemeinb­esitz. Ich muss es gar nicht selber besitzen, ich weiß auch nicht, warum jemand von mir etwas kaufen muss. Was macht er denn damit? Will er seiner Freundin imponieren? Oder soll es eine Geldanlage sein? Mich könnten sie aus der Portokasse bezahlen.

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FOTO: ISABEL HERNANDEZ Timm Ulrichs vor seinem eigenen Augenlid, in das die über die Zeit verblassen­den Worte „The End“tätowiert sind.

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