Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
49 zu 51 – oder andersherum
Am 19. April wollen die Grünen bekannt geben, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck für sie ins Rennen um das Kanzleramt geht. In Partei und Fraktion gelten beide als geeignet: ein geradezu quälender Luxus.
Das Grünen-Urgestein Jürgen Trittin freut sich diebisch. „Jetzt hat die Union nicht einmal mehr die Hoheit über ihren Zeitplan in der K-Frage“, sagt er am Mittwoch. Die Nachricht, dass die Grünen-Spitze am 19. April ihre Entscheidung zur Kanzlerkandidatur bekannt geben will, wirbelt das politische Berlin an diesem Tag ordentlich auf. Was für ein Timing, mitten hinein in eine der schwersten Führungskrisen von CDU und CSU. Bei den Konservativen ist unklar, wer wann wie über die Kanzlerkandidatur entscheidet, bei den Grünen feiert man sich nun für eine bis dato gelungene Choreografie.
Seit Monaten kokettieren Parteichefin Annalena Baerbock und der Co-Vorsitzende Robert Habeck damit, dass sie sich beide die Kanzlerschaft vorstellen können und gemeinsam zu einer Entscheidung kommen wollen. Zu Zerwürfnissen zwischen ihnen führte all das bislang nicht, doch mit der Entscheidung steht ein schwerer Schritt noch bevor. Oder ist sie bereits gefallen?
Wer sich in Partei und Fraktion umhört, bekommt darauf keine klare Antwort. Im Subtext aber wird deutlich, dass es unwahrscheinlich sei, ein Datum für die Bekanntgabe festzulegen, ohne Klarheit in der Sache zu haben. Und im Subtext wird ebenso deutlich: Eine klare Präferenz gibt es intern nicht. Die Zuspruchsraten seien in der Partei bei 49 und 51 Prozent für Habeck oder Baerbock – oder andersherum. Beide seien geeignete Kanzlerkandidaten, beide hätten das Zeug dazu, das Land zu führen, eine Regierung mit Richtlinienkompetenz anzuleiten, heißt es. Und doch müssen die Grünen sich erst noch an den Gedanken gewöhnen, tatsächlich Aussicht auf die Nachfolge von Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt zu haben.
Nach einem Tiefpunkt 2017, als die
Partei nahe an die fünf Prozent und in eine tiefe Existenzkrise rutschte, ging es mehr oder weniger stetig bergauf. Im Bundestag bilden die Grünen die kleinste Fraktion, in den Umfragen sind sie aber zweitstärkste Kraft – mit der Union in Reichweite. Forsa sieht die Grünen bei 23 Prozent, die Union nur noch bei 27 Prozent, die SPD als drittstärkste Partei abgeschlagen bei 15 Prozent. Die Grünen nutzen in sozialen Netzwerken nun den Slogan „Alles ist drin“, beinahe als ob sie sich dessen stets selbst vergewissern müssten. Doch in einem Jahr, in dem Merkels Kanzlerschaft nach 16 Jahren an der Macht endet, das Land stark gezeichnet ist von einer nie dagewesenen Pandemie-Krise und tiefgreifende Richtungsentscheidungen etwa zum Klimaschutz oder Zukunftsinvestitionen anstehen, haben die Grünen aus einer früheren Außenseiterrolle heraus nun beste Angriffschancen.
Das lässt sich auch am Stimmungsbild zur K-Frage ablesen. Laut RTL/ NTV-„Trendbarometer“von Forsa würden sich bei der Kanzlerpräferenz derzeit zwar 38 Prozent für CSU-Chef Markus Söder entscheiden, wenn seine Gegenkandidaten Habeck und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wären. Habeck käme gegen Söder auf 19, Scholz auf 13 Prozent. Und sollte Baerbock Kanzlerkandidatin werden, käme Söder auf 39 Prozent, die Grünen-Co-Chefin auf 20 und Scholz auf 14 Prozent. Würde die Union allerdings mit dem CDU-Chef Laschet antreten, sehe das Ergebnis anders aus: Dann würden sich 22 Prozent für Habeck und jeweils 17 Prozent für Scholz und Laschet entscheiden. Sollte Baerbock für die Grünen antreten, käme sie laut Forsa sogar auf 23 Prozent. 17 Prozent würden sich für Scholz, 16 Prozent für Laschet entscheiden. Baerbock so oder so vor Habeck in der K-Frage – das gab es bislang noch nicht. Ist sie also gesetzt? Hätte sie die besten Chancen, im Wahlkampf die strategisch wichtigen
Stimmen frustrierter Unionswähler abzugreifen?
Baerbock, das ist überall in Partei und Fraktion zu hören, habe einen beachtlichen Weg hinter sich gebracht an der Parteispitze. Sie gilt als eine, die sich stärker als Habeck in Sachthemen hineinarbeiten kann, die Positionen politischer Gegner durchdringt, strategisch denkt, einen kühlen Blick hat auf Zusammenhänge, Machtinstinkt und Zielstrebigkeit in sich vereint. Kurz: Baerbock hat sich mit ihrer Art den Respekt vieler Grüner – auch gegen Widerstände – erarbeitet. Sie würde also nicht gesetzt, weil sie eine Frau ist und damit ein Alleinstellungsmerkmal im sonst voraussichtlich rein männlichen Kanzlerkandidatenfeld hätte. Oder weil sie mit 40 Jahren noch jung ist und als Mutter von zwei Kindern weiß, was derzeit Kitas und Schulen für Schwierigkeiten haben. Zugleich müsste Habeck sich stets die Frage stellen lassen, warum er der einzigen Frau nicht die Kandidatur überließ, sollte er ins Rennen gehen. Ihr Vorteil. Bislang führte Habeck die Beliebtheitsstatistiken klar an, war im Land mit Abstand bekannter, wirkte auf viele Menschen sympathischer, nahbarer, weicher. Zudem kann er, anders als Baerbock, Regierungserfahrung zumindest auf Landesebene vorweisen. Als Umweltminister in Schleswig-Holstein legte er sich mit Wirtschaftsverbänden an, zeigte den Menschen vor Ort, dass er als 51-jähriger Schriftsteller auch als Politik-Quereinsteiger Talent hat.
Und so blicken die Grünen in Partei und Fraktion derzeit sehr genau auf ihre Vorsitzenden, die für einen pragmatischen Mittekurs stehen. Das Risiko einer Spaltung dürfte dabei eher gering sein, zumal es Baerbock und Habeck verstanden, im Entwurf eines Wahlprogramms beispielsweise durch die Abschaffung von Sanktionen in der Grundsicherung den linken Teil der Partei einzubinden. Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner schrieb am Mittwoch an die Parteigremien: „Lasst uns gemeinsam unser Land erneuern!“Das Gemeinsame wird für die Grünen-Spitze entscheidend sein.
Die Grünen nutzen in sozialen Netzwerken nun den Slogan „Alles ist drin“