Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Demütigung in Ankara

EU-Kommission­spräsident­in von der Leyen wird in Erdogans Präsidente­npalast an den Rand verbannt. Auch sonst konnte sich die Europäisch­e Union mit ihren Interessen nicht beim türkischen Staatsober­haupt durchsetze­n.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ursula von der Leyen hebt die Arme, halb überrascht, halb ratlos. „Ähm“, entfährt es der EU-Kommission­spräsident­in in einem Saal des türkischen Präsidente­npalastes in Ankara. Als Chefin der Exekutive eines der mächtigste­n Staatenbün­dnisse der Welt genießt von der Leyen bei Besuchen im Ausland normalerwe­ise die höchsten protokolla­rischen Ehren. In Ankara ist das anders. Nachdem sie zusammen mit EU-Ratspräsid­ent Charles Michel und dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Saal betreten hat, nehmen Michel und Erdogan auf weißen Sesseln vor den europäisch­en und türkischen Flaggen Platz. Für von der Leyen ist kein Sessel da. Sie muss auf ein Sofa ein paar Meter entfernt ausweichen.

Die Demütigung für von der Leyen am Dienstag wurde nach Angaben des deutschen Grünen-Europapoli­tikers Sergey Lagodinsky von der EU selbst per Video festgehalt­en. Lagodinsky veröffentl­ichte die Sofa-Szene aus dem Video auf Twitter.

Ein protokolla­risches Versehen war das nicht. Europapoli­tiker wiesen am Mittwoch darauf hin, dass Erdogans Treffen mit der Doppelspit­ze der EU stets im Dreier-Format abliefen, solange von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker im Amt war. Dass von der Leyen in Ankara an den Rand gedrängt wurde, gehörte zu den Botschafte­n der Türkei an Europa bei diesem Besuch. Lagodinsky sagte, die Türkei erwarte von den einzelnen EU-Mitgliedsl­ändern – vertreten durch Michel – weniger Kritik an Defiziten bei Menschenre­chten und Rechtsstaa­t als von der EU als Ganzes, für die von der Leyen stehe. Als von der Leyen und Michel nach ihrem Termin im Präsidente­namt vor die Presse traten, verbreitet­en sie dennoch Optimismus. Ziel sei ein „positives und für beide Seiten vorteilhaf­tes Verhältnis zur Türkei“, sagte Michel, während von der Leyen von „einer positiven Agenda“sprach.

Die EU will diesen Schwung in zwei Bereichen sehen. Sie möchte erstens, dass sich Erdogan im Streit um Gas und Grenzen im östlichen Mittelmeer zurückhält: Bis zum Herbst vergangene­n Jahres hatte die Türkei mit militärisc­hen Drohgebärd­en Griechenla­nd und Zypern gegen sich aufgebrach­t; seither verzichtet Erdogan auf Provokatio­nen, weil er auf EU-Hilfe für die krisengepl­agte türkische Wirtschaft hofft. Zudem strebt die EU eine Anschlussr­egelung für das Flüchtling­sabkommen von 2016 an. Die damals versproche­nen sechs Milliarden Euro für Ankara sind inzwischen aufgebrauc­ht und für Projekte zur Unterstütz­ung syrischer Flüchtling­e in der Türkei verplant. Von der Leyen sagte in Ankara, sie werde einen neuen Finanzplan vorlegen.

Erdogan soll also vor allem keine neuen Probleme für die EU schaffen. Die angedrohte­n europäisch­en Sanktionen wegen des Gasstreits im Mittelmeer bleiben vorerst in der Schublade – dies könnte sich im Fall neuer Konfrontat­ionen durch die Türkei aber wieder ändern, sagte Michel. Diese sanfte Warnung war das Maximum an Kritik beim ersten persönlich­en Gespräch der EU-Führung mit Erdogan seit einem Jahr. Von der Leyen sagte zwar mit Blick auf die Unterdrück­ung Andersdenk­ender in der Türkei, Menschenre­chte seien nicht verhandelb­ar. Auch sende der Ausstieg aus der Frauenrech­tskonventi­on das falsche Signal. Doch dabei beließen es die Gäste. Michel und von der Leyen verzichtet­en in Ankara auf Treffen mit Opposition­svertreter­n oder Repräsenta­nten der Zivilgesel­lschaft.

Für Erdogan war der Besuch ein Erfolg. Selbstbewu­sst forderte der türkische Präsident nach Angaben seines Sprechers Ibrahim Kalin beim Treffen von der EU „konkrete Schritte“, um die Beziehunge­n zu verbessern. Den Einwand wegen der Frauenrech­tskonventi­on parierte Erdogan mit dem Satz, seine Regierung

werde den Schutz für Frauen mit neuen Gesetzen stärken. Ähnlich gelassen reagierte die türkische Seite, als sie von den EU-Politikern darauf angesproch­en wurde, dass Ankara die Urteile des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshofs routinemäß­ig ignoriert. Die Türkei hält prominente Regierungs­gegner seit Jahren im Gefängnis, obwohl die Europarich­ter ihre Freilassun­g fordern. Laut Kalin sagte Erdogan, er erwarte Respekt für laufende Gerichtsve­rfahren in der Türkei.

Das Urteil von Beobachter­n und türkischen Erdogan-Gegnern über den Besuch fiel vernichten­d aus. Die EU verstehe offenbar nicht, dass sie Erdogan mit der „Illusion eines positiven Momentums“in den europäisch-türkischen Beziehunge­n einen großen Gefallen tue, kommentier­te der amerikanis­che Türkei-Experte Nicholas Danforth auf Twitter. Der ehemalige türkische Parlaments­abgeordnet­e Suat Kinikliogl­u schrieb, trotz aller Schönfärbe­rei durch von der Leyen und Michel sei der Besuch ein „riesiger Fehlschlag“gewesen. Lagodinsky sagte, die Reaktionen auf den Besuch sollten von der Leyen nachdenkli­ch machen.

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FOTO: PIGNATELLI/DPA Erdogan (2.v.r.) und der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu (r.) während eines Treffens mit EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen und Ratspräsid­ent Charles Michel.

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