Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Bibel überstand drei Jahre Zuchthaus
Sie half dem niederländischen Widerstandskämpfer Karel Reusen durch die Haft in Lüttringhausen. Inzwischen wird die Bibel vom Ur-Enkel auf der karibischen Insel Aruba aufbewahrt.
Wenn sich bei der Suche in Archiven nicht nur jahrzehntealte Puzzleteile zusammenfügen, sondern diese im Hier und Jetzt greifbar werden, ist das für einen Geschichtsforscher eine seltene Erfüllung. Andrea Blesius ist dieses Glück widerfahren. Die Schriftführerin des Pferdestall-Vereins hat am Schicksal eines von den Nazis Verfolgten ein Fundstück ausgegraben, dessen Spur von den Niederlanden über Lüttringhausen bis in die Karibik führt. Auf der Insel Aruba hütet Peter-Hans Auwerda eine Bibel, die einst seinem Ur-Opa Karel Reusen gehörte und diesen durch seine dreijährige Haft in Remscheid begleitete. „Die schwerste Zeit seines Lebens“, wie Pfarrer Friedrich Krönig zum Abschied reinschrieb.
Es war der 24. April 1945, eine Woche, nachdem Remscheid und das Zuchthaus Lüttringhausen von den amerikanischen Streitkräften befreit worden waren. Im überfüllten Gefängnis herrschte Durcheinander, die ehemaligen Gefangenen wollten so schnell wie möglich zu ihren Familien zurückkehren. Darunter auch Karel Jacobus Philippus Reusen. Seit dem 15. Juli 1942 saß der in Den Haag beheimatete Niederländer hinter Gittern. Der 1880 geborene Kaufmann und Vater von drei Kindern hatte sich in seiner Heimat früh dem Widerstand angeschlossen und finanzierte die Widerstandszeitung Vrij Nederland (Freies Niederlande). Am 25. Juni 1941 war die Gruppe durch den berüchtigten Spion Anton van der Waals verraten worden.
Am 19. November 1941 ergingen die Urteile. Drei Gruppenmitglieder wurden am 23. Februar 1942 in der Waalsdorper Senke, einem Dünengebiet nördlich von Den Haag hingerichtet. Während des 2. Weltkriegs erschossen die deutschen Besatzer dort über 250 Menschen. Karel Reusen entging der Todesstrafe. „Wohl, weil er sehr gut Deutsch sprach und sich vor Gericht verteidigen konnte“, wie Blesius herausfand. Seine Strafe für die Verbreitung deutschfeindlicher Hetzschriften wurde in „lebenslänglich plus sechs Monate“umgewandelt.
In seiner Gefangenenkarte steht, dass er am 15. Juli 1942 von Kleve nach Lüttringhausen überstellt wurde. Reusen saß mit mehreren Landsleuten ein. Karl Reusen erlebte die Befreiung und den 24. April 1945, als Gefängnispfarrer Krönig einen letzten Gottesdienst abhielt. Der Programmablauf ist in die Bibel, die Reusen nie aus der Hand gab, eingeklebt. Nach Psalm 103, Vers 15 „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde“sprach Karl Reusen als Punkt 3 ein Dankesgebet. Viele Mitgefangene unterschiedlicher Nationalitäten verewigten ihren Namen in Reusens Bibel. Darunter auch Kaplan Dr. Cornelius Roussaint, Hauptangeklagter im Berliner Katholikenprozess 1937, inhaftiert in Lüttringhausen von 1937 bis 1945. Nach dem 2. Weltkrieg war Roussaint bis zu seinem Tode 1991 Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.
Dem Schicksal dieser Opfer widmet sich auch die Gedenk- und Bildungsstätte Pferdestall am Quimperplatz. Andrea Blesius beschäftigt sich seit dem 18. Lebensjahr mit den Folgen des Unterdrückungsregimes im Bergischen und nennt den Lokalhistoriker Armin Breidenbach als wichtige Inspiration für ihre Arbeit. Zu diesem Teil deutscher Geschichte hat sie einen persönlichen Bezug. Ihr Großvater arbeitete während des Krieges im Zuchthaus Lüttringhausen als Wärter. Die 49-Jährige schaute sich die Listen der Zwangsarbeiter an und die Namen der Zuchthaus-Insassen.
Intensiv beschäftigte sich Blesius mit den Niederländern, denn aus deren Archiven gibt es online meist schnelle Auskünfte. So stieß sie auf die „Oorlogsgravenstichting“, das Pendant zur Kriegsgräbervorsorge, mit einem Eintrag und einem Porträt von Karl Reusen und dem Namen von Ur-Enkel Peter-Hans Auwerda. „Anfangs dachte ich, das ist ja wunderbar, in drei Stunden bin ich in den Niederlanden, um persönlich mit ihm über das Schicksal seines Vaters sprechen zu können.“Auf ihre Mail bekam sie im Dezember 2020 eine zügige Antwort.
Sie stammte jedoch von der kleinsten der ABC-Inseln. Aruba gehört zu den Kleinen Antillen in der südlichen Karibik, ist autonomes Land im Königreich Niederlande. Auwerda hat die Bibel des einstigen Widerstandskämpfers in seinem Besitz. Er ließ der bergischen Lokalhistorikerin einige abfotografierte Seiten daraus zukommen. Darunter eine Zeichnung von Reusens Zelle. Und die ließ den Puls von Andrea Blesius steigen. „Denn es deckte sich mit einer Lüttringhauser Zellen-Fotografie, die ich aus einer Publikation des Justizministeriums NRW zum Strafvollzug 1933 - 1945 habe.“
Rechts hinten am Fenster hängt ein Wandschrank, daneben steht ein Tisch, darunter ein Hocker, gegenüber ist eine hochklappbare Pritsche. Für Andrea Blesius ergibt sich: „Anhand der Gefangenenkarte mit Urteil und weiteren Dokumenten aus den Arolsen Archives lässt sich dieser Fall in Verbindung mit den Familiendokumenten klar belegen.“Für die Pferdestall-Rechercheurin ein Erfolg: „Denn wir wollen ja keine Geschichten erzählen, sondern Geschichte.“
Reusen kehrte 1945 als mittelloser Mann zurück nach Hause. Seine letzten Lebensjahre waren beschwerlich. Er litt an Herzasthma und sein Geschäft war zerstört. Bevor Reusen am 28. Dezember 1954 in Den Haag starb, war er lange bettlägerig.
„Wir wollen keine Geschichten erzählen, sondern Geschichte“Andrea Blesius Schriftführerin Pferdestall-Verein