Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Der 101. Geburtstag ohne den Zwilling
Katharina Schwarzbauer feiert erstmals ohne ihre Schwester. Sie ist Ende Januar hundertjährig an Covid-19 gestorben.
Auf der Trauerkarte steht: „Die Mama war‘s – was braucht’s der Worte mehr.“Im Alter von 100 Jahren starb Anna Zitzelsberger am 29. Januar 2021 im Pflegeheim in Ruhmannsfelden – an Corona, wenige Tage zuvor hatte sie ihre Erstimpfung erhalten. Ihre Zwillingsschwester Katharina Schwarzbauer lebt weiterhin in dem Markt im Bayerischen Wald, am 4. Mai ist sie 101 Jahre alt geworden.
Die beiden waren fit beim Besuch Ende September im vergangenen Jahr. Schwarzbauer sagte: „Ich bin pumperlgsund.“Auch die Schwester Anna stand morgens immer auf und wurde mit dem Rollstuhl geschoben. Beide nahmen selbstständig ihre Mahlzeiten ein, schauten fern, lasen die Lokalzeitung – den „Viechtacher Bayerwald-Boten“. Abends tranken sie gern ein Glas Bier. Oft gingen sie mit Tochter und Nichte für ein Stück Kuchen ins nahe Café Mader. Zu dieser Zeit war Corona abgeebbt, Besuche erlaubt.
Recherchen zufolge waren die Jahrhundertfrauen wohl das einzige
„Mit 100 darf man an allem sterben. Nur nicht an Corona“
Arzt von Anna Zitzelsberger
lebende Zwillingspärchen in diesem Alter in Deutschland. Sie erzählten von ihrem harten, aber geerdeten Bayerwald-Leben, vom Aufwachsen mit neun Geschwistern in einer Bauernfamilie. Es wurde Holz gehackt, man lebte vom Wald. Der Vater war auch Wilderer, sonst hätte er die Familie nicht durchgebracht. Eine raue, versunkene Welt. Die Gegend war bitterarm und lag abgeschieden. Es gab viel Schnee, die Sommer waren kurz. Immer blieben die Zwillinge nah beieinander, heirateten fast zur selben Zeit, bekamen Kinder, Enkel, Urenkel. Zuletzt teilten sie sich ein Zimmer im Heim.
Ab Oktober, als die Infektionszahlen wieder in die Höhe schnellten, durften sie nicht mehr besucht werden. „Aber wir haben geskypt, alle 14 Tage“, erzählt Margot Wagner, die Tochter der verstorbenen Anna Zitzelsberger. Das Pflegepersonal organisierte das, hielt den beiden im Heim das Handy bereit. „Die Mama war putzmunter“, so Wagner.
Weihnachten verbrachten die Hundertjährigen auch im Heim. Am 23. Januar erhielten sie ihre erste Corona-Schutzimpfung und waren sehr froh darüber. „Das war schon eine Erleichterung“, sagte Wagner. Denn viele Bewohner und Teile des Personals hatten sich trotz aller Schutzmaßnahmen infiziert. Nur zwei Tage nach der Impfung rief das Heimpersonal an: Die Schwestern sind Corona-positiv getestet worden. Es braucht eine gewisse Zeit, bis die Erstimpfung ihre Wirkung aufbaut. Ob Katharina Schwarzbauer tatsächlich infiziert war, lässt sich nicht rekonstruieren. Den beiden gehe es „soweit gut“, meinten die Pflegekräfte.
Margot Wagner und ihre Schwester Christine Heimerl, die sich hauptsächlich um die beiden kümmerten, konnten nichts weiter machen. Zwei Tage später sagte man ihnen, die Mutter sei „ein bisschen matt, sie schläft“. Dann wurden die Mitteilungen immer schlechter: Der Zustand sei „nicht so gut“. Tags darauf erhielten sie die Nachricht: „Es geht dem Ende zu, Sie dürfen kommen.“Nach Negativ-Tests und in Schutzkleidung eingehüllt, konnten sie alle ins Zimmer, die Töchter und auch die Enkel. „Wir haben uns verabschiedet“, sagt Margot Wagner. „Das war für alle sehr wichtig.“Am 29. Januar morgens um 3.55 Uhr ist Anna Zitzelsberger dann „friedlich eingeschlafen“, so sagt es die Tochter. Da waren sie da. Sie streichelten der Verstorbenen über die Wangen. Der Arzt meinte: „Mit 100 darf man an allem sterben. Nur nicht an Corona.“
Am 3. Februar wurde Anna Zitzelsberger beerdigt, im Familiengrab auf dem Friedhof von Gotteszell, neben der Pfarrkirche St. Anna. „Es hat in Strömen gegossen und war sehr kalt“, erinnert sich Wagner. 25 Angehörige waren bei der Bestattung zugelassen, die Kirche blieb wegen Corona abgesperrt. Die Schwester Katharina Schwarzbauer kam nicht, sie war psychisch zusammengebrochen. Sie musste in eine Klinik gebracht werden, nach einiger Zeit verlegte man sie dort auf die Palliativstation, weil ihr Zustand aussichtslos erschien. „Doch irgendwie hat sie sich wieder derrappelt“, meint die Nichte. Im März kam sie zurück ins Heim. „Sie vermisst ihre Schwester sehr und möchte nun bald eine Messe für sie lesen lassen.“
Noch im Herbst hatten die 100-Jährigen kleinen und zartgliedrigen Frauen schöne und grausige Geschichten aus dem Bayerwald erzählt. Wie sie als Kinder in Holzschuhen eine Stunde in die Schule gelaufen sind und eine Stunde wieder zurück – manchmal reichte der Schnee bis über die Oberschenkel. „Ich habe meine Jugend im Wald verbracht“, erzählte Schwarzbauer. „Da habe ich immer Holz gehauen.“Mit ihrem Ehemann betrieb sie bis 1960 Landwirtschaft. Dann verdiente er sein Geld als Musiker – er spielte die Trompete in einer Volksmusik-Kapelle. Der älteste Bruder der Zwillinge kam bei einem Unfall ums Leben – er wurde aus Versehen von einem Gastwirt erschossen. So erging es auch einem anderen Verwandten bei einem Neujahrsschießen. Und bis in die Nacht haben sie immer wieder um einiges Geld alte Kartenglücksspiele gezockt. „Danach gab es eine saure Milchsuppe“, berichtete Schwarzbauer – eine Speise aus der bäuerlichen Küche.
Vergangenen Dienstag sind die Angehörigen in kleiner Runde und gemäß den Corona-Vorschriften zusammengekommen, das traditionelle Geburtstagsessen im Gasthof Hacker in Gotteszell ist ausgefallen. Die Nichten haben die Tante im Heim besucht, zum 101. Geburtstag. Für Katharina Schwarzbauer war es der erste ohne die Zwillingsschwester.