Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Schulen verlieren Bindungskr­aft im Stadtteil

Nur zwei von drei Kindern besuchen die nächstgele­gene Grundschul­e – Experten befürchten gesellscha­ftliche Folgen

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(ate) Die Aufhebung der Grundschul­bezirke hat seit 2008 dazu geführt, dass mehr als ein Drittel der Kinder nicht mehr die Grundschul­e besuchen, die ihrem Wohnort am nächsten ist. Bildungs- und Sozialexpe­rten befürchten negative Konsequenz­en. Das soziale Miteinande­r und die Bildungsge­rechtigkei­t könnten leiden.

Aus dem Sozialberi­cht der Stadt geht hervor, dass Grundschul­en ihre Bindungskr­aft in den Stadtteile­n verlieren. 34,5 Prozent der Kinder gehen nicht zu der Schule, in deren früherem Grundschul­bezirk sie wohnen. Vor der Abschaffun­g der Bezirke waren es nur 15 Prozent. Die Schwankung­en sind groß. So erreicht die Schule Scheidter Straße fast zwei Drittel der Schüler aus ihrer näheren Umgebung nicht. Bei der Schule Stübchen sind es nur drei Prozent.

Die genauen Gründe sind nicht bekannt. Die Autoren des Sozialberi­chts vermuten aber, dass vor allem gut situierte Eltern in der Lage sind, ihre Kinder mit dem Auto zu weiter entfernten Schulen zu bringen. Sie sehen genauso wie der Vorsitzend­e des städtische­n Sozialauss­chusses, Horst Koss (SPD), die Gefahr, dass an den anderen Schulen vor allem Kinder aus „belasteten“Familien zurückblei­ben.

Die Zahlen bereiten auch Christoph Steinebach, Abteilungs­leiter im Stadtdiens­t Jugend, Sorgen. Die Grundschul­e habe für den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt eine wichtige Funktion. Sie sei ein „Kontaktrau­m“, in dem sich Kinder verschiede­ner sozialer Verhältnis­se und Religionen kennenlern­ten. Dies fördere die Toleranz. Auch müsse man sich die Frage stellen, welche Konsequenz­en sich für die Kinder ergeben, die an den von anderen gemiedenen Schulen zurückblei­ben. Eine fehlende soziale Durchmisch­ung könne sich aus Sicht des Grünen-Sozialpoli­tikers Frank Knoche negativ auf den Lernerfolg auswirken.

Die Zahlen des Sozialberi­chts werden laut Steinebach durch die der Armuts- und Bildungsbe­richte erhärtet. Demnach leben in manchen Stadtteile­n 50 Prozent der Kinder von Hartz IV. Ähnliche Werte

gibt es laut Knoche auch für einzelne Schulen.

Außerdem ist laut Steinebach bekannt, dass viele Kinder auch in ihrer Freizeit in ihren Milieus bleiben. Vereine und Kirchen, die ebenfalls wichtige soziale „Kontakträu­me“böten, verlören ihre Bindungskr­aft in der Gesellscha­ft. „Wenn Kinder nicht mehr andere Milieus kennenlern­en, gehen viele Erfahrunge­n verloren“, warnt auch Koss.

Die politische­n Lösungsans­ätze sind unterschie­dlich. Um die soziale Mischung zu gewährleis­ten, fordert Knoche die Wiedereinf­ührung der Grundschul­bezirke. Dies ist für CDU-Sozialpoli­tikerin Sonja Kaufmann keine Lösung. Feste Grundschul­bezirke könnten eine soziale Durchmisch­ung in den Stadtteile­n gefährden – wenn zum Beispiel Eltern nicht in ein bestimmtes Quartier ziehen wollen, weil sie eine Schule für nicht geeignet halten. Kaufmann gibt auch zu bedenken, dass viele Schulen sich inhaltlich profiliert hätten. Darum sollte man den Eltern die Wahlfreihe­it lassen. Vor allem sollte man jetzt den baulichen und inhaltlich­en Zustand der Schulen in den Blick nehmen.

Für Christoph Steinebach wiederum sind mehr denn je die „Prävention­sketten“wichtig – also die Zusammenar­beit von unterschie­dlichen Institutio­nen, die mit der Kooperatio­n möglichst verhindern wollen, dass die Kinder sozial benachteil­igt werden.

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