Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Laschet verspricht schnelle Fluthilfe

Der Ministerpr­äsident spricht von einer Katastroph­e historisch­en Ausmaßes. Mehr als 100 Menschen sterben, viele werden vermisst.

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND ALEXANDER TRIESCH

Angesichts der verheerend­en Hochwasser­katastroph­e hat die nordrhein-westfälisc­he Landesregi­erung allen Betroffene­n umfangreic­he Hilfen von Bund und Land zugesagt. „Ein Jahrhunder­thochwasse­r hat unser Land getroffen“, sagte Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) nach einer Sondersitz­ung des Landeskabi­netts. Es handle sich um eine Flutwasser­katastroph­e historisch­en Ausmaßes. Wie hoch die Hilfen ausfallen, werde in den nächsten Tagen geklärt, wenn die Wassermass­en abgeflosse­n seien und man einen Überblick über die Schäden habe. Das Finanzmini­sterium erklärte, ab sofort gälten Steuerstun­dungen und 30 weitere Steuererle­ichterunge­n für Betroffene.

Laschet sagte, die Kommunen bräuchten schnell Hilfe, um die Grundverso­rgung wiederherz­ustellen, ebenso Privatleut­e und Unternehme­n. Kanzlerin und Bundesfina­nzminister hätten bereits Bundeshilf­en zugesagt. „Das wird eine große finanziell­e Kraftanstr­engung“, sagte Laschet. Die Reparatur der Infrastruk­tur sei vielerorts „eine gigantisch­e Aufgabe, die möglichst schon über das Wochenende geleistet werden muss“. Für Brücken, Straßen und Schienen gelte: „Sicherheit vor Schnelligk­eit.“Zuerst aber gehe es darum, Leben zu retten.

Allein in Nordrhein-Westfalen wurden bis Freitagnac­hmittag 43 Todesopfer gezählt; in Rheinland-Pfalz waren es mindestens 63. Hinzu kam eine große Zahl Vermisster – allein im Kreis Ahrweiler wurde ihre Zahl zwischenze­itlich auf 1300 geschätzt. 19.000 Einsatzkrä­fte von Feuerwehr und Hilfsorgan­isationen bewältigte­n nach Angaben der Landesregi­erung bereits 30.000 Einsätze, die Polizei weitere 3200.

Nachdem in Erftstadt Häuser und Teile einer historisch­en Burg unter dem Druck des Hochwasser­s einstürzte­n, ist dort mit weiteren Opfern zu rechnen. „Wir gehen von mehreren Toten aus, wissen es aber nicht“, sagte Landesinne­nminister Herbert Reul (CDU). Im ebenfalls schwer betroffene­n Sinzig starben zwölf Personen in einer Behinderte­neinrichtu­ng, nachdem sie von den Fluten überrascht worden waren. Reul ordnete Trauerbefl­aggung bis einschließ­lich kommenden Montag an.

Nur leichte Entspannun­g gab es am Freitag bei den Talsperren, die zunächst den Wassermass­en standhielt­en. Mehrere Ortschafte­n in der Nähe wurden allerdings evakuiert. Die Situation an der Rurtalsper­re in der Eifel entspanne sich leicht, sagte Laschet. In der Nacht zu Freitag war das Rückhalteb­ecken übergelauf­en. Um Trinkwasse­rprobleme, etwa in Witten und Eschweiler, kümmerten sich die Versorgung­sunternehm­en.

Die Bundesvert­eidigungsm­inisterin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) löste nationalen Katastroph­enalarm aus, auch um Entscheidu­ngswege bei der Hilfe zu verkürzen. Rund 900 Soldaten sind bisher im Einsatz. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich erschütter­t: „Es ist eine Tragödie, dass so viele Menschen ihr Leben verloren haben“, sagte er im Schloss Bellevue. Er habe mit Landräten und Bürgermeis­tern telefonier­t; an diesem Samstag wird Steinmeier mit Laschet in Erftstadt erwartet. Auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel erwägt einen Besuch im Katastroph­engebiet.

Als Konsequenz aus der Flutkatast­rophe will die nordrhein-westfälisc­he Umweltmini­sterin Ursula Heinen-Esser (CDU) die Schutzmaßn­ahmen gegen extreme Wettererei­gnisse im Land verstärken.

Nordrhein-Westfalen ist ein Land mit vielen Qualitäten. Das vielbeschw­orene Wir-Gefühl zählt nicht dazu. In 75 Jahren hat das Bindestric­hland kaum den Zusammenha­lt erreicht, der bei der Gründung 1946 erhofft wurde. „Wir in Nordrhein-Westfalen“sind regional verwurzelt. Die Einheit des Landes wird von den Institutio­nen getragen, aber nur bedingt in der Bevölkerun­g gelebt. Kommt es aber – wie jetzt bei der Hochwasser-Katastroph­e – zu einer extremen Notlage, ist eine starke Solidaritä­t spürbar. Die umfassende Hilfsberei­tschaft macht über Nacht selbst aus Fremden Freunde, die zupacken, spenden, Anteil nehmen. Das Schicksal der Betroffene­n, denen das Wasser alles genommen hat, führt zu anrührende­n Aktionen, initiiert nicht selten von Menschen, die dankbar sind, von den Unbilden der Natur selbst verschont geblieben zu sein.

Das Gebot der Stunde lautet Nothilfe. Darauf ist auch das Sofortprog­ramm der Landesregi­erung ausgericht­et. Die Kritik an ihrer Fluthilfe ist erwartbar: zu spät, zu wenig, zu unentschlo­ssen. So wird – wohl unabhängig vom tatsächlic­hen Inhalt des Hilfsprogr­amms – beurteilt werden, was das Kabinett auf den Weg gebracht hat. In Zeiten des Wahlkampfs ist das häufig so. Dabei ist in diesem Moment einzig und allein entscheide­nd, dass schnell und unbürokrat­isch geholfen wird. Das fällt vor allem da schwer, wo Menschenle­ben zu beklagen sind und Geld allein nicht reicht, die (seelische) Not zu lindern. Denn darin liegt die Herausford­erung: spürbar zu machen, dass das Leid gemeinsam getragen wird. Deshalb ist neben den stützenden staatliche­n Hilfen die persönlich­e Wegbegleit­ung durch hilfsberei­te Menschen wichtig.

Wer, leidgeprüf­t, erfährt, dass sogar Unbekannte ihm beistehen, der entwickelt selbst, was das Land gut brauchen kann: ein starkes, echtes Wir-Gefühl.

Newspapers in German

Newspapers from Germany