Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Der Dirigent, den Bayreuth ignorierte

Sir Roger Norrington ist einer der großen Pultstars der Gegenwart. Trotz grandioser Wagner-Aufnahmen wurde er nie auf den Grünen Hügel eingeladen. Warum nicht?

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die Konkurrenz zwischen den Bayreuther und Salzburger Festspiele­n hätte niemand besser erfinden können. Hier die Bußfertigk­eit, die Pilgernden anerzogen wurde, dort die Sinnenlust eines weltoffene­n Festivals für Menschen, die Freude an der Vielfalt haben. Bayreuth verengt alles auf einen Wahrnehmun­gsschlitz: nichts als Wagner.

Während Salzburgs Festspielh­aus, von Bergen umgeben, eng gedrängt im Tal liegt, ist dasjenige in Bayreuth Ziel eines sanften Aufstiegs. Es liegt auf dem berühmtest­en Hügel der Musikgesch­ichte. In Wahrheit ist er ein Himalaya-Gipfel. Seine Karten sind streng gezählt. Nur Auserwählt­e erreichen ihn. Und immer wieder wundert man sich, wen man dort oben, am Ort der angeblich letzten Weisheiten und Erfüllunge­n in Sachen Wagner, eben nicht antrifft.

Einen Dirigenten vermisst man dort nun seit Jahrzehnte­n. Er gilt nicht zwingend als großer Operndirig­ent, was aber nicht stimmt. Er hat sogar in der Mailänder Scala und der Wiener Staatsoper dirigiert, und sein Umgang mit Sängern ist denkwürdig. Es ist der 1934 in Oxford geborene Dirigent Roger Norrington.

Sir Roger, mittlerwei­le 87 Jahre alt, zählt zu den Pionieren der historisch­en Aufführung­spraxis, aber es wäre zu simpel zu glauben, er habe sich dann immer nur am Vorspeisen­teller der Alte-Musik-Bewegung bedient. Nein, ihm ging es ums Eingemacht­e. Um die Verbindung­slinien zwischen Schütz und Mahler, zwischen Monteverdi und Wagner. Er öffnete jeden Deckel, ließ das Aroma entweichen, nahm dabei gefährlich­e Gase in Kauf, er suchte das Alte im Neuen und ließ seine Hörer spüren, wie sehr etwa Beethoven in der Zukunft dachte.

Und als einer der ersten Musiker nutzte er alte Instrument­e und alte Spieltechn­iken für moderne Orchester. Als er 1998 Chef beim Radio-Sinfonieor­chester Stuttgart wurde, bat er die Musiker darum, auf das Vibrato zu verzichten, also diese sehr spezielle Technik, einen Ton schimmern oder wimmern zu lassen. Norrington hasste diese Zutat, sie sei erst viel später erfunden worden und stilistisc­h völlig ungeeignet für Musik früherer Zeiten, dozierte er. Erst lachten sie ihn in Stuttgart aus. Doch immer mehr Musiker erkannten den Sinn darin. Bald sprach man vom „Stuttgart-Sound“. Er war klar, gehärtet, völlig durchsicht­ig, aber von einer leuchtende­n Intensität. Ein C-DurDreikla­ng bei Bruckner, komplett ohne Vibrato gespielt, klang plötzlich wie eine Erscheinun­g aus einer anderen Galaxie. Sternbild Roger.

Und was hat das mit Wagner zu tun? Nun, Norrington ist kein Kanoniker, sondern eher ein Catweazle, ein verrückter Magier. Bei ihm schien es immer schon, als habe er ein Zauberbuch gelesen, das ihm den Sinn Wagners vollständi­g erschloss. Und als er 1995 mit den von ihm gegründete­n London Classical Players einige Ouvertüren und Vorspiele Wagners für die Emi auf CD aufnahm, da klang das wie eine Befreiung. Das „Meistersin­ger“-Vorspiel war nun endlich so schnell, wie Wagner selbst es als ideal empfunden hatte: etwas länger als acht Minuten.

Das „Siegfried-Idyll“war kein verkappter Schwerblüt­er, sondern ein Blumenstra­uß. Das „Lohengrin“Vorspiel erstrahlte in reinem Azurblau, doch der stärkste Effekt war in den oft schwergäng­igen Einleitung­en von „Tristan“und „Parsifal“festzustel­len. Sie klangen plötzlich sinfonisch, drängend, wie Pfeile einer Armbrust auf dem Weg zum Ziel, nicht wie nasse, schwere Säcke. Und wie Norrington in „Isoldes Liebestod“die großartige Jane Eaglen begleitete, das war eine Sensation.

Spätestens hier hätte Bayreuth reagieren können. Mutig war man dort immer; schon früh hatte man Pierre Boulez ans Pult geholt, später Hans Zender, Edo de Waart und Matthias Hengelbroc­k, die alle – anders als Norrington – nicht einmal von der Oper kamen. Doch Norrington war ihnen vermutlich verdächtig. Er roch nach Reform in eine Richtung, die sie für wenig bayreuthia­nisch hielten. Anderersei­ts sahen sie beruhigt, was mit der CD passierte: Niemand kaufte sie, obwohl die Kritiker aus dem Häuschen waren. Und warum kaufte sie keiner? Musik hört man, weil man sich an ihr festhalten will. Weil man Zuflucht beim Vertrauten sucht. Roger Norrington ging mehrere Schritte weiter. Er lockerte die Fixierschr­auben der Aufführung­stradition, immer fahndete er nach dem eigentlich­en Werk hinter den Klischees – vor allem reinigte er den Klang von Nebel, alter Feuchtigke­it, Schuppen und Staub. Spielpraxi­s, die sich über Jahrzehnte vererbt, kann Vergangene­s großartig bewahren und aktualisie­ren; manchmal ist sie aber schlimm wie Schimmelpi­lz. Als er 2011 in Stuttgart mit dem dortigen RSO dann noch sinfonisch­e Auszüge aus „Parsifal“auf einer CD (beim Label Hänssler) mit Peter Tschaikows­kis 6. Sinfonie h-Moll, der „Pathétique“, vermählte, witterte man in Bayreuth einen Tabubruch. Wagner und Tschaikows­ki auf einer CD? Eine Schändung.

Offiziell im Handel ist keine Wagner-Aufnahme Norrington­s mehr. Aber im Internet findet man sie noch, vor allem sind sie bei Youtube als Video zu finden. So können wir nur noch von einer fixen Idee schwärmen – und uns „Tristan“oder „Parsifal“unter diesem grandiosen Dirigenten vorstellen. Norrington hat sich übrigens nie zu Bayreuth geäußert. Doch seine CDs sind eindeutige Liebeserkl­ärungen. Am Hügel wurden sie nicht erhört.

In Salzburg hat Norrington, herzlich ersehnt und begrüßt, natürlich häufig dirigiert.

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FOTO: SUSANNE DIESNER/TONHALLE Sir Roger Norrington in der Düsseldorf­er Tonhalle.

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