Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Corona und das Gewissen
Neue Regeln hat die Pandemie uns reichlich gebracht. Dennoch stellen sich im Alltag viele ethische Fragen rund um Covid-19. Hier einige typische Fälle – mit aussagekräftigen Antworten.
Die folgenden Antworten zum Impfen hat unsere Redaktion in Abstimmung mit zwei Ärzten formuliert: Sebastian Schöttes, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Düsseldorf, sowie Christoph Dahlmanns, Facharzt für Innere Medizin und impfender Hausarzt in Mönchengladbach. Einige Fragen, die zu Themen aus ihrer Kernkompetenz zählen, haben Schöttes und Dahlmanns selbst beantwortet.
Ich stehe allein in einem Aufzug, in dem nur vier Leute fahren dürfen. Ich muss in den 13. Stock. In der zweiten Etage wollen sich fünf Kollegen, ebenfalls alle mit Maske, in den Aufzug drängen. Normalerweise wäre mir das egal. In Corona-Zeiten macht mir das Stress.Wie soll ich mich verhalten?
ANTWORT Sebastian Schöttes: „Niemand sollte eine Enge aushalten, die er nicht aushalten möchte. Wenn Sie sich unwohl führen, können Sie die Wartenden bitten, den nächsten Aufzug zu nehmen. Das geht womöglich mit ein bisschen Humor. Wenn es nicht freundlich rüberkommt, sondern vielleicht etwas brüsk, ist das aber auch kein Drama. Wenn die anderen trotzdem einsteigen, können Sie immer noch der Klügere sein und von sich aus aussteigen.“
Ich kenne viele Mediziner und bin deshalb durch einen spontanen Anruf schnell an einen Impftermin gekommen. Viele Ältere sind dagegen mit ihrer Impfung noch nicht durch. War mein Verhalten unfair?
ANTWORT Unbedingt sollte man hier in die Mediziner und ihr berufliches Ethos vertrauen. Jeder Arzt wird unter seinen Patienten diejenigen bevorzugt impfen, die es aus medizinischer Sicht am nötigsten haben. Bevor aber eine ungenutzte Dosis weggeworfen wird, ist es nicht unfair, wenn man schnell zur Impfung in die Praxis kommen kann.
Meine beste Freundin ist schon zweimal geimpft und sieht es nun nicht mehr ein, in Gesellschaft eine Maske zu tragen. Ich bin erst einmal geimpft. Darf ich sie bitten, bei unseren Treffen eine Maske aufzusetzen?
ANTWORT Selbstverständlich. Zwar ist das Maskentragen nicht mehr überall zwingend vorgeschrieben. Aber verboten ist es auch nicht. Gerade
Freunde sollten Verständnis dafür haben, das nicht jeder gleichermaßen sorglos ist.
Muss man ein schlechtes Gefühl haben, wenn man das Angebot einer Astra-Impfung ablehnt?
ANTWORT Nein. Niemand, der Astrazeneca ablehnt, muss sich schuldig fühlen. Dazu haben die Stiko und Politiker ihren Teil beigetragen. Durch das Hin und Her bei der Impfempfehlung haben sie viele Menschen verunsichert. Erst war Astrazeneca nur jüngeren Menschen empfohlen. Inzwischen ist es genau umgekehrt: Astrazeneca sollen laut Stiko nur noch Menschen über 60 bekommen. Kein Wunder, wenn aber auch in dieser Altersgruppe das Vertrauen in die Vakzine stark geschwunden ist. Und Jüngere handeln nach aktueller Stiko-Empfehlung ohnehin auf eigenes Risiko, wenn sie Astrazeneca akzeptieren.
Ich ernte ab und an fragende Blicke, wenn ich erzähle, dass ich im Ausland Urlaub mache; das Ziel könnte sogar bald wieder Risikogebiet sein. Muss ich mir Vorwürfe machen?
ANTWORT Vorwürfe nicht, aber auf jeden Fall Gedanken über die Rahmenbedingungen der Reise. Es gibt in allen Ländern klare Corona-Regeln und dazu eindeutige Ein- und Ausreisebestimmungen des Auswärtigen Amtes. Die ändern sich leider dauernd. Jeder, der wegfährt, muss sich damit bereits vor der Reise vertraut machen und sich darauf einstellen. Vorwürfe muss sich niemand machen, der verreisen möchte, solange er sich an die Regeln hält. Sogar ein Urlaub in einem ausgewiesenen Hochrisikogebiet ist kein Grund für Vorwürfe, wenn man selbst weiß, dass man sich vorsichtig verhält. Aber hinterfragen, ob es wirklich sein muss, sollte man einen solchen Plan schon.
In unserem Freundeskreis sind fast alle doppelt geimpft. Bei einer Feier fühle ich mich aber nur wohl, wenn sich trotzdem alle getestet haben. Geimpft und getestet – darf ich das erbitten, oder nerve ich meine Freunde nur damit?
ANTWORT Entscheidend ist, wie viele in der Gruppe doppelt geimpft sind. Wenn dies zum Beispiel acht oder neun Personen von zehn sind, ist das Prinzip der Herdenimmunität erreicht. Dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit niemand mehr eine Gefahr für den anderen. Aber mit der zusätzlichen Testung erhöht man diese Sicherheit noch. Freunden kann man immer sagen, dass einem diese Sicherheit wichtig ist.
Kann man diese Freunde auch darum bitten, sich daheim zu testen?
ANTWORT Ja, kann man. Das ist sogar netter, als wenn man sie direkt vor dem Ort der Feier zur Probe bittet. Das könnte im ungünstigen Fall darauf hinauslaufen, dass jemand wieder nach Hause muss, weil der Test positiv ausfällt. Wer das als überflüssig ablehnt, den kann man auf freundliche Weise bitten, dann diesmal daheim zu bleiben – und sozusagen eine Feier zu überspringen, bis noch mehr wissenschaftliche Sicherheit herrscht, ob Geimpfte wirklich niemanden mehr anstecken können. Sie können es nämlich, aber offenbar nur in seltenen Fällen.
Ich bin doppelt geimpft. Auf eine Party innen und mit 50 Menschen habe ich trotzdem keine Lust. Ist es okay, wenn ich mein Kommen absage?
ANTWORT Ganz sicher. Erstens, weil man vielleicht nicht weiß, wie ernst es die anderen 49 Partygäste mit dem Virenschutz nehmen. Zweitens, weil Entscheidungsfreiheit und das Recht auf die eigene Meinung nichts mit Corona zu tun haben.
Wie verhalte ich mich gegenüber Leuten, die sich nicht impfen lassen?
ANTWORT Christoph Dahlmanns sagt: „Wir leben in einer Zeit der Überinformation. Manche Leute sind einfach nicht zu überzeugen. Impfgegner hat es immer schon gegeben, Verschwörungstheorien auch. Ich empfehle die Impfung, weil ich vor allem die überzeugenden Effekte sehe, kann aber auch akzeptieren, wenn das jemand anders sieht. Einem Menschen, der unsicher ist, kann man jedoch Argumente für die Impfung an die Hand geben.“
Was sagt man jemandem, der vor allem Angst vor der Nadel, also der eigentlichen Impfung, hat?
ANTWORT Dahlmanns: „Man sagt ihm, dass die allermeisten Ärzte, die impfen, diesen Vorgang mit größter Routine vollbringen – eben weil sie momentan wirklich viel impfen. Ich erlebe dauernd, dass mich ein Patient nach der Impfung fragt: ,Wann fangen Sie denn endlich an?’ Die Nadeln sind mittlerweile so dünn, dass man den Einstich wirklich kaum merkt.“
Meine beste Freundin (erst einmal geimpft) möchte mich (doppelt geimpft) beim ersten Wiedersehen nach langer Zeit umarmen. Sie merkt, dass ich nicht sofort reagiere, und sie sagt: „Ach komm, da kann doch nichts passieren, du bist doch safe, und ich kann es gar nicht haben.“Ich möchte trotzdem nicht. Was sage ich ihr, und wie sage ich es ihr?
ANTWORT Schöttes: „Man könnte einfach sagen: ,Ich weiß das, dass ich wahrscheinlich safe bin, möchte aber trotzdem noch ein bisschen vorsichtig sein.’ Wenn sie eine gute Freundin ist, wird sie das verstehen.“
Ich weiß noch nicht, ob ich mich impfen lassen möchte. Momentan wird, so empfinde ich es jedenfalls, auf Unentschlossene ein großer Druck ausgeübt. Ich bin mir wegen der Nebenwirkungen noch unsicher und spüre einen Zwiespalt. Bin ich ein Egoist, wenn ich noch zögere?
ANTWORT Schöttes: „Es ist richtig, sich zunächst gut zu informieren, etwa auf der Seite des RKI, sich mit dem Hausarzt auszutauschen und andere nach ihren Erfahrungen zu befragen. Man sollte sich aber auch informieren, welche Risiken des Nicht-Impfen mit sich bringt, und dann ist es gut, den Mut zur Entscheidung zu fassen. Die Impfung hat jedenfalls immer zwei Anteile: Man schützt sich und alle anderen.“