Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Sturzfluten an Bachläufen
Beim Hochwasserschutz standen kleinere Flüsse bislang eher nicht im Fokus. Das müsse sich ändern, sagen Experten, ebenso wie die Risikowahrnehmung der Anwohner. Die Konsequenzen sind gravierend.
Als katastrophale HochwasserEreignisse, die sich ins kollektive Bewusstsein gebrannt haben, gelten gemeinhin neben der Sturmflut in Hamburg im Jahr
1962 die Elbe-Überschwemmungen von 2002 und 2013. Auch die aktuellen Überflutungen in Westfalen, im Bergischen Land, der Eifel und dem Ahrtal werden, was die Zahl der Opfer, die Schadenshöhe und das Ausmaß der Verwüstungen angeht, aus künftiger Sicht wohl in eine ähnliche Kategorie fallen – nur dass diesmal kaum größere Flüsse, sondern kleinere Gewässer wie die Nims, Ahr oder Erft über die Ufer getreten sind. Hochwasserschutz und -risikomanagement befassen sich bislang vorrangig mit großen Flüssen wie Rhein, Elbe oder Weser. Für deren Überflutungen existieren Verhaltenspläne, werden Szenarien durchgespielt.
Ein Beispiel dafür, was ein Bach anrichten kann, der sich in ein reißendes Gewässer verwandelt, lieferte 2016 der Ort Braunsbach in Baden-Württemberg. Nach heftigen Regenfällen donnerte eine Sturzflut aus Geröll und Schlamm durch die Stadt, der Schaden belief sich auf rund 100 Millionen Euro. Auch bei den aktuellen Ereignissen transportierte etwa das Eifel-Flüsschen Nims, dessen Einzugsgebiet etwa
300 Quadratkilometer groß ist, mehrere Millionen Kubikmeter Wasser zusätzlich; diese gewaltigen Massen rauschten ungehindert talwärts. „Kleine Gewässer haben wir durchaus auf dem Schirm“, sagt Holger Schüttrumpf, Professor für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der RWTH Aachen: „Die Frage ist nur, ob das auch für die Betroffenen gilt.“
Um Schuldzuweisungen geht es dabei nicht. Denn dass sich die Häuser in den Mittelgebirgsstädten mit ihren schmalen Tälern meist am Fluss gruppieren, ist historisch so entstanden, sagt der Wissenschaftler. Schon seit Jahrhunderten siedeln die Menschen an den Flüssen, leben und arbeiten dort, nutzen das Wasser. „Heute müssen wir uns fragen, ob das noch zeitgemäß ist, ob wir nicht größere Freiflächen brauchen, statt alles zuzubauen“, sagt Schüttrumpf. Die Niederländer würden dabei vormachen, worum es beim Hochwasserschutz unter anderem geht: dem Fluss Raum zu geben. Schüttrumpf: „In den Mittelgebirgsorten fehlt aber genau dieser Platz für die Gewässer.“
In bestimmten, jetzt betroffenen Bereichen werde man sich also überlegen müssen, ob es sinnvoll sei, an den bisherigen Strukturen festzuhalten, oder ob man versuche, einen Kompromiss zu finden. Hochwasserschutz stoße immer dann an Grenzen, wenn es um Extremfälle gehe. „Mit kleineren und mittleren Hochwassereignissen können wir ganz gut umgehen“, sagt Schüttrumpf, „das funktioniert. Wir werden jedoch niemals in der Lage sein, Katastrophenhochwasser vollständig zu beherrschen.“Technisch sei das oft nicht möglich und ökonomisch nicht unbedingt sinnvoll; je mehr der Schutz ausgebaut werde, desto mehr Geld müsse in die Hand genommen werden. Trotzdem verbleibe immer ein Restrisiko, weil das nächste Hochwasser höher sein könne als das letzte. Schüttrumpf: „Dazu gilt es zu berücksichtigen, dass wir uns permanent in einem Konflikt unterschiedlicher, teils gegenläufiger Interessen bewegen. Wir wollen irgendwo leben und arbeiten, wir brauchen die Natur, die Landwirtschaft, die Wälder. Das macht es teils kompliziert, Hochwasserschutz so umzusetzen, wie es notwendig wäre.“
Schon nach den Hochwasserereignissen von 2013 hat Schüttrumpf mit 15 anderen Professoren der Lehrstühle für Wasserbau und Ingenieurhydrologie
eine Resolution zum Hochwasserschutz verfasst. Ziel war es, auf die Komplexität der Problemlage aufmerksam zu machen, Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen und an die Verantwortungsträger zu appellieren, den vorhandenen Sachverstand an den Universitäten zu nutzen. „Dies erfordert jedoch das Bewusstsein, dass Hochwasserschutz keine von Zeit zu Zeit wiederkehrende Aufgabe ist, sondern in weiten Bereichen unseres Landes zur Daseinsvorsorge zählt“, heißt es in der Resolution. Verbessert hat sich die Situation aus Sicht der Wissenschaftler seither nur bedingt.
Ansätze, die Vorsorge in solchen Fällen zu verbessern, gibt es viele. Laut Schüttrumpf etwa die Risikowarnungen im Vorfeld, dort hätte vieles effektiver und punktgenauer laufen können. „Der Alarm darf nicht zu breit gestreut werden, sondern muss diejenigen erreichen, die betroffen sind“, sagt er. Mit Hilfe von Regenradarsystemen und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz ließe sich dabei viel optimieren. Außerdem müssten vorbeugende Maßnahmen zum Hochwasserschutz konsequent umgesetzt werden. „Da darf man keine Kompromisse eingehen“, sagt Schüttrumpf. „Wie soll man den betroffenen Bürgern im Nachhinein erklären, dass etwa ein Deich nicht gebaut wurde?“
Gut sei es auch, wenn mehr Menschen gegen solche Schäden versichert wären, sofern das möglich ist. Hochwassergefahren und -risikokarten würden zeigen, ob man in einer gefährdeten Region lebe, sagt der Experte. „Natürlich geht es dabei um seltene Szenarien“, sagt Schüttrumpf, „und es liegt eben in der Natur des Menschen zu sagen: Das wird mich nicht treffen.“Die Wahrscheinlichkeit dafür steigt jedoch enorm, da sind sich Wasserwirtschaftler, aber auch Meteorologen und Klimaforscher einig. Hochwasserschutz sei eine Daueraufgabe, sagt Holger Schüttrumpf: „Das darf nicht nur dann auf der Agenda stehen, wenn wir Hochwasser haben.“
„Es liegt in der Natur des Menschen zu sagen: Das wird mich nicht treffen“
Holger Schüttrumpf Professor für Wasserbau, RWTH Aachen