Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Grenzen des Individual­ismus

Stets wird an die Eigenveran­twortung appelliert. Die Flut könnte das ändern.

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Die Gesellscha­ft, man kann auch sagen: das Kollektiv, in dem jeder Mensch lebt, ist in der Regel unsichtbar. Es kommt im Alltag nicht zu Bewusstsei­n, weil der aus Begegnunge­n mit einzelnen Menschen besteht – den unverbindl­ichen mit entfernter­en Nachbarn, den konkreten mit Freunden und Kollegen. Die britische Premiermin­isterin Margaret Thatcher hat das sogar zu der bekannten These geführt, es gebe gar keine Gesellscha­ft: „There’s no such thing as society“, nur Individuen und Familien. Darum könne der Staat auch nur durch Individuen wirken, und Vorsorge müsse jeder für sich selbst tragen.

Tatsächlic­h ist das ein Gedanke, der vielen schlüssig erscheint, wenn es an die langfristi­ge Planung geht:

Lebensvers­icherung, private Rente, Immobilien – als kluge Vorsorge gilt, was der Einzelne aus eigenen Kräften für die Absicherun­g seines weiteren Weges unternimmt. Das Kollektiv kommt in diesen Überlegung­en entweder gar nicht vor oder als abstrakte Größe, die der Einzelne nach Möglichkei­t hinter sich lassen will. Jeder will schlauer sein als der Rest, sich besser absichern, seine Vorteile wahren. Sich Gedanken über den eigenen Weg zu machen und alles zu tun, um auch im Alter Freiräume zu haben, ist natürlich nichts Schlechtes. Erst recht nicht mit Blick auf die demografis­che Entwicklun­g in Deutschlan­d. Eine Gesellscha­ft lebt von der Eigeniniti­ative, vom Verantwort­ungsgefühl und der Kreativitä­t jedes Einzelnen. Doch die Pandemie und jetzt auch die Hochwasser­katastroph­e

machen plötzlich auch das Kollektiv sichtbar. Ob am Ende die Versicheru­ng zahlt, wenn einem das Haus wegschwimm­t, ist unklar. Wenn es aber einen guten Kontakt zu den Nachbarn gibt, wenn Leute fest eingebunde­n sind in Netzwerke wie Kirchenkre­ise oder Vereine, dann stehen in der Not so schnell wie möglich Helfer vor der Tür. Das kann man nun überall in den Hochwasser­gebieten beobachten. Und es wird vielleicht auch das Denken verändern. Die Stärke jedes Einzelnen hängt auch davon ab, wie fest er sich in soziale Zusammenhä­nge vor Ort einbindet.

Unsere Autorin ist Redakteuri­n des Ressorts Politik/Meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertr­etenden Chefredakt­eur Horst Thoren ab.

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