Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Die Klimakrise eskaliert“
Die „Fridays for Future“-Aktivistin über Versprechen und Taten der Politik – und die Rolle von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet.
Frau Neubauer, haben Sie damit gerechnet, dass Fluten dieser Dimension bei uns auftreten können?
NEUBAUER Auch wenn ich seit zweieinhalb Jahren täglich darüber spreche, dass die Klimakrise bereits da ist, ist es trotzdem schockierend zu sehen, in welcher Geschwindigkeit die Klimakrise Wohlstand zerstören kann. Es wird oft vergessen, dass die Krise verschiedene Formen und Facetten annimmt, häufig passieren die Folgen im Stillen. Über die Toten bei Hitzewellen oder austrocknende Moore wird nicht so prominent gesprochen. Wenn die Klimakrise aber mit einer derartigen Wucht einschlägt, wie wir es derzeit erleben, sollte es eigentlich nicht überraschen – schwer zu fassen ist es trotzdem.
Die Trümmer sind noch nicht beseitigt. Ist es schon an der Zeit, über Ursachen zu sprechen?
NEUBAUER Nicht darüber zu sprechen, wäre unehrlich. Es geht ja nicht darum, die Katastrophe zu politisieren oder für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, sondern sie in einen Zusammenhang zu stellen. Wenn an amerikanischen Schulen geschossen wird, fragt man zu Recht nach dem US-Waffengesetzen. Wenn im Straßenverkehr Fahrradfahrer sterben, fragt man nach der Verkehrssicherheit. Und wenn Menschen in Fluten sterben oder ihre Lebensgrundlagen verlieren, muss man sich fragen, wie es zu diesen Fluten kommen konnte. Es geht nicht auf, wenn man nur kurzfristig hilft, während man weiterhin dazu beiträgt, dass langfristig die Gefahren immer weiter zunehmen. So lässt man die Menschen vor eine Wand laufen. Deswegen ist es entscheidend, dass man die akute Not im Kontext der großen Klimakrise versteht. Das schließt nicht aus, trotzdem Anteil zu nehmen und Soforthilfe zu leisten. Es kommt auf beides an.
Wird versucht, aus der Katastrophe politisch Profit zu schlagen?
NEUBAUER Ich bin mir sicher, dass die Menschen vor Ort ein sehr gutes Gespür dafür haben, was hilft und was nicht hilft. Wenn Politiker Präsenz zeigen und zuhören, kann das auch helfen. Die Menschen in großer Not werden sich aber nicht einlullen lassen von hohlen Inszenierungen. Das hat man bei einem der Besuche von Armin Laschet auch gesehen, er wurde zu Recht scharf für sein Lachen kritisiert. In diesen Notsituationen zeigt sich Politik von einer neuen, menschlichen Seite: Plötzlich wird vor Ort ganz konkret sichtbar, ob und wie Politiker die Menschen ernst nehmen, die Lage der Betroffenen verstehen und annehmen – und auch, wer davon überfordert ist.
Sie gehen häufiger hart ins Gericht mit Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Braucht Ihr Aktivismus einen Adressaten?
NEUBAUER Grundsätzlich einmal sind Regierungen dazu angehalten, auf die Wissenschaft zu hören – auch dann, wenn die Erkenntnisse der eigenen Programmatik widersprechen. Das gilt in der Corona-Pandemie, aber genauso in der Klimakrise und in akuten Katastrophen. Wie schwer das manchen fällt und wie wenig ernst die Botschaften genommen werden, ist gerade wieder zu beobachten. Ein Teil des Dramas dieser Fluten ist eben auch, dass es sehr gute Prognosen gab. Trotzdem verhalten sich Regierungen so, als wären sie immun gegenüber der Klimakatastrophe. Sie blockieren immer wieder Klimaschutz, reden ihn klein oder degradieren Aktivisten. Dazu gehört auch, dass so getan wird, als seien diese erwartbaren Katastrophenlagen keine reale Gefahr. Das ist eine Überheblichkeit, die nicht nur unangemessen ist, sondern auch Lebensgrundlagen zerstören kann.
Sprechen Sie von Armin Laschet?
NEUBAUER Ich spreche hier ja auch als Vertreterin einer Generation, die quasi keine andere Kanzlerin kennt als Angela Merkel. Umso genauer betrachte ich die Kanzlerkandidaten – wer weiß schon, wie lange sie bleiben? Armin Laschet ist immerhin der aussichtsreichste Kanzlerkandidat. Zusammen mit seiner Regierung in Nordrhein-Westfalen hat er in der jüngeren Vergangenheit darauf hingewirkt, die notwendigen Schritte zu blockieren: Er hat einen vorgezogenen Kohleausstieg, den Ausbau der Erneuerbaren und den großflächigen Aufbau von Windkraftanlagen verhindert. Zugleich wurde in NRW die Energieagentur, die wichtige Arbeit für die Energiewende leistet, eingestampft, und mit einem neuen Versammlungsgesetz soll der Klimaaktivismus kriminalisiert werden. Das sind sehr klare Tendenzen. Beim Klimaschutz geht es nicht darum, ob man ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger davon macht. Beim Klimaschutz geht es um die Frage, ob man das Pariser Klimaschutzabkommen einhalten will oder nicht. Dieses Abkommen funktioniert nur, wenn alle mitmachen. Die 1,5-Grad-Grenze steht nicht zur Verhandlung.
Klimaschutz ganz oder gar nicht – das ist sehr absolut. Argumentieren Sie nicht an der Realität vorbei?
NEUBAUER Wir verhandeln das in unserem neuen Buch ja mehrmals. Es stimmt, Politik heißt: Man muss Entscheidungen treffen und Kompromisse eingehen. Das heißt auch, dass man sich entscheiden kann, alles dafür zu tun, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. Oder man kann sich entscheiden, pauschale Abstandsregeln für die Windkraft einzuführen und so die Energiewende effektiv vor die Wand zu fahren. Natürlich trägt man dafür Kosten und zahlt auch einen politischen Preis. Das Problem ist, dass lange politisch impliziert wurde, man könne sich zwischen mehr oder weniger Klimaschutz entscheiden. Diese Wahl gibt es nicht. Man hat die Wahl zwischen mehr Klimaschutz oder mehr Klimakrise. Nicht zu handeln ist am Ende so viel teurer – die Flutkatastrophe ist der beste Beweis dafür.
Ein ganz konkreter Ansatz wäre, dass wir anfangen, mit CO2-Budgets zu arbeiten. Man müsste also ein endliches CO2-Budget vorgeben, wonach wir uns ausrichten müssen. Letztendlich geht es darum, eine Politik zu beenden, die Lebensgrundlagen ausplündert, als hätten wir noch drei Planeten rumliegen.
Kaum eine Partei mit Ausnahme der AfD stellt das 1,5-Grad-Ziel infrage. Ist das nicht ein Fortschritt?
NEUBAUER Naja, diskursiv ist das schon ein Fortschritt. Ich bin mir auch sicher, dass, selbst wenn die Klimakatastrophe völlig eskalieren sollte, 100 Millionen Menschen auf der Flucht wären, das Wasser knapp wird und Brände wüten, die Politik weiterhin beteuern wird, sich für mehr Klimagerechtigkeit einzusetzen. Schöne Worte reduzieren eben keine Emissionen. Und wir messen Politik nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten. In den allermeisten Parteiprogrammen finden sich Maßnahmen wieder, mit denen das 1,5-Grad-Ziel niemals eingehalten werden wird. Diese Zusagen sind auch gefährlich. Denn sie erzählen ein Märchen von einer Regierung, die sich kümmert und die Lage im Griff hat. Doch wenn man sich die Lage anschaut, stellt man fest, dass niemand hier etwas im Griff hat. Und die Klimakrise eskaliert.
Sie haben angekündigt, dass „Fridays for Future“den Druck erhöhen will. Was haben Sie vor?
NEUBAUER Wir werden in den nächsten Monaten in jeder Ecke des Landes und jeder Generation mobilisieren, Hunderte Proteste organisieren und dafür sorgen, dass im besten Falle Menschen überall anfangen, die Klimakatastrophe – und die eigene Stimme bei der Wahl – so ernst zu nehmen wie möglich.
Haben Sie die Sorge, dass die Gesellschaft zu krisenmüde ist, um sich der nächsten Krise zu stellen?
NEUBAUER Wir haben jetzt noch die Wahl, in welcher Weise wir uns der Klimakrise stellen: proaktiv oder irgendwann nur noch reaktiv. Wenn Menschen angesichts großer Herausforderungen zusammenkommen, dann können sie Großartiges vollbringen. Wir können in kürzester Zeit Impfstoffe entwickeln, wir können zerbombte Länder wiederaufbauen und überflutete Städte aufräumen. Was ich damit sagen will: Wir sind in der Lage, große Herausforderungen anzunehmen. Die Klimakrise ist die größte Herausforderung, die wir je erlebt haben und vielleicht je erleben werden. Wenn der Wille da ist, können wir auch in diesem krisengebeutelten Moment über uns selbst hinauswachsen.